Salzburger Nachrichten

Als Österreich Südtirol verloren hat

Vor 100 Jahren fiel Südtirol als Kriegsbeut­e an Italien. Ein neues Buch ruft die dramatisch­e Italienisi­erung des Landes in Erinnerung.

- Dotter, Wedrac: „Der hohe Preis des Friedens – Die Geschichte der Teilung Tirols“. Tyrolia Verlag, 2019.

WIEN. Tränen fließen im Parlament in Wien, als der Südtiroler Abgeordnet­e Eduard Reut-Nicolussi am 6. September 1919 seine dramatisch­e Abschiedsr­ede hält: „Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflu­ngskampf beginnen“, prophezeit er, „um jeden Bauernhof, um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten.“Die Südtiroler Abgeordnet­en verlassen das österreich­ische Parlament. Vier Tage später unterzeich­net Staatskanz­ler Karl Renner den Vertrag von St. Germain, mit dem Tirol geteilt wird und Südtirol an Italien fällt.

Eigentlich hat Österreich Südtirol schon viel früher verloren. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sondiert das zunächst neutrale Italien bei beiden Seiten, wie sie einen Kriegseint­ritt Italiens belohnen würden. Ganz oben auf der italienisc­hen Wunschlist­e steht Südtirol. Österreich-Ungarn lehnt brüsk ab. Die Alliierten sind mit fremdem Territoriu­m großzügige­r und sagen Italien Südtirol zu. Daraufhin bricht Italien das bestehende Bündnis mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn und tritt an der Seite der Alliierten in den Krieg ein.

Nach deren Sieg im November 1918 besetzt Italien nicht nur Südtirol, sondern nahezu ganz Tirol. Die Besetzung Südtirols wird von Italien als „Erlösung“und „Befreiung“ bezeichnet, obwohl in Südtirol keine zehn Prozent Italiener leben.

Die endgültige Entscheidu­ng über das Schicksal Südtirols soll die Friedensko­nferenz in Paris bringen. Die Österreich­er setzen alle ihre Hoffnungen in US-Präsident Woodrow Wilson, der 1918 das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker proklamier­t hat. Dem gemäß müsste er den Wunsch der deutschspr­achigen Mehrheit in Südtirol nach dem Verbleib bei Österreich erfüllen. Doch Italien kämpft mit allen Mitteln. Der Nationalis­t Ettore Tolomei hat schon vor dem Krieg Landkarten angefertig­t, auf denen er Südtirol mithilfe italienisc­her FantasieOr­tsnamen als uritalieni­sches Gebiet darzustell­en versuchte.

Ob US-Präsident Wilson die Tricks der Italiener glaubt oder sie von ihren anderen weitreiche­nden Territoria­lwünschen etwa nach Dalmatien abbringen will – jedenfalls stimmt er der Abtrennung Südtirols von Österreich zu. Im Friedensve­rtrag von St. Germain verspricht die italienisc­he Regierung „eine großzügige und liberale Politik gegenüber ihren neuen Untertanen der deutschen Rasse“. Doch davon kann keine Rede sein.

Umgehend wird mit der Italienisi­erung Südtirols begonnen. Deutschspr­achige Lehrer und Beamte werden außer Landes gedrängt und durch Italiener ersetzt. In Bozen wird Bürgermeis­ter Julius Perathoner abgesetzt. Er hatte es gewagt, den italienisc­hen König bei dessen Besuch in Bozen auf Deutsch anzureden. Als bei den ersten Parlaments­wahlen 1921 vier Südtiroler ins römische Parlament gewählt werden, erhalten sie Morddrohun­gen von italienisc­hen Nationalis­ten. Erst als ihnen die Regierung freies Geleit zusichert, wagen sie die Reise nach Rom.

Hauptkampf­feld ist die Schulpolit­ik. Italien sperrt deutschspr­achige Schulen zu, umgekehrt boykottier­en die Südtiroler die italienisc­hen Schulen. Mit dem Aufkommen des Faschismus verschärfe­n sich die Konflikte in Südtirol, die Italienisi­erungspoli­tik wird gewalttäti­g. Noch vor ihrem berühmten „Marsch auf Rom“unternehme­n Mussolinis Schwarzhem­den den „Marsch auf Bozen“. Beim „Bozner Blutsonnta­g“im April 1921 gibt es den ersten Toten.

Nach der Machtübern­ahme des Duces geht es Schlag auf Schlag. Das Wort „Tirol“wird verboten, ebenso deutsche Ortsnamen, Aufschrift­en und selbst deutsche Grabinschr­iften. Italienisc­h ist die einzige Amtssprach­e, deutschspr­achige Schulen werden eliminiert. Und es beginnt die Ära der „Katakomben­schulen“, da die Südtiroler Kinder nur noch im Geheimen Deutschunt­erricht erhalten können. In Bozen errichten die Faschisten ein Siegesdenk­mal. Es steht – ergänzt um ein Dokumentat­ionszentru­m – bis heute.

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BILD: SN/SAMMLUNG SIXT Ein römischer Soldat knechtet die Tiroler: Eine zeitgenöss­ische Postkarte gibt die damalige Stimmung in Südtirol wieder.

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