Schon das Morgen ist Geschichte
Bevor am Samstag die letzte Salzburger „Salome“über die Bühne geht, ist eine DVD als Salzburger Festspiel-Dokument erschienen.
Was vor 27 Jahren begann, hat mittlerweile ein tönendes Archiv der Salzburger Festspielgeschichte hervorgebracht, das in Kontinuität und Fülle wohl – auf eine Institution bezogen – einzigartig ist. Gottfried Kraus als Initiator und langjähriger Herausgeber der Reihe konnte dabei in erster Linie auf Mitschnitte des Rundfunks zurückgreifen und hat sie für die Digitalisierung sorgfältig restauriert.
Heuer wird die Serie, in der seit 1992 schon die relevantesten Kompendien der audiophonen Festspiel-Aufzeichnungsgeschichte erschienen sind, in diesem Segment unterbrochen. Die Zeiten haben sich eben auch gewandelt, man will mehr sehen als hören. Und da seit geraumer Zeit alle Opernpremieren in Bild und Ton aufgezeichnet werden, ist die DVD heute das wichtigere Dokumentationselement als eine CD. Also bilden den Jahrgang 2019 alle Opernpremieren des Vorjahrs. Man kann nachschauen, was man unmittelbar erlebt hat, oder neu ansehen, was man durch das audiovisuelle Medium kennenlernen möchte. Wobei die Pilatus-Frage lautet: Was ist Wahrheit?
Jeder Opernbesucher erlebt die Kunstform in der Totale, jeder Einzelne sucht sich selbst seine Perspektive der Aufführung. Jede Aufzeichnung einer Opernaufführung wählt hingegen vorab die Ausschnitte, die für das Bildmedium relevant sein sollen. Sie gibt also nicht den Gesamteindruck einer Aufführung wieder, sondern komponiert ihre eigene Sichtweise. Das kann zu erheblichen Verschiebungen der Wahrnehmung führen. Im Falle etwa der umstrittenen „Zauberflöte“(Regie: Lydia Steier, Dirigent: Constantinos Carydis), deren Zirkusatmosphäre sich in den Weiten der Bühne des Großen Festspielhauses seltsam verflüchtigt hat, deren offensiver Märchencharakter – der Großvater einer spätbürgerlichen Familie erzählt seinen drei Enkeln die Geschichte quasi vom Lehnstuhl aus als Gute-NachtGeschichte – einen eher betulichen Charme entwickelte, besitzt die Fernsehwiedergabe einen zwingenderen, in sich schlüssigeren Zug. Die grundlegenden Bedenken werden da zwar nicht ausgeräumt, aber man ist näher dran an den Intentionen der Regie, weil man etwa Aktionsund Reaktionsweisen genauer sieht. So darf man schon gespannt sein auf eine, wie man kolportiert, Wiederaufnahme der Inszenierung im Jubiläumsjahr 2020, dann wohl im intimeren Rahmen des Hauses für Mozart. Welche „Wahrheit“wird sich da eröffnen?
Sieht man das Dokument der „Bassariden“von Hans Werner Henze (Regie: Krzysztof Warlikowski, Dirigent: Kent Nagano), wird man vor dem Bildschirm womöglich verwirrter zurückgelassen als durch die Original-Totale der mehrfach geteilten Simultanbühne von Małgorzata Szczęśniak in der Felsenreitschule. Man orientiert sich wegen der der Close-ups, die alle Nebenhandlungen ausblenden oder nur andeuten, schwerer als im Saal, auch wenn man dort je nach Sitzplatz nicht alles mitbekam, was für die Regie relevant sein mochte.
Das dritte Beispiel aus dem neuen Angebot, dem auch noch „Pique Dame“(Regie: Hans Neuenfels, Dirigent: Mariss Jansons) und „Alcina“in Cecilia Bartolis Pfingstproduktion 2018 sowie eine CD-DVD-Box von William Christies bestechender Produktion von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“(Regie: Jan Lauwers) zugehören, ist die ingeniöse Jahrhundertaufführung der „Salome“(Regie und Bühne: Romeo Castellucci, Dirigent: Franz WelserMöst). In der Übersetzung von der leeren, offenen Felsenreitschulbühne ins DVD- resp. Fernsehmedium wird ihr nichts von ihrer Aura genommen. Henning Kasten gelang hier das Kunststück, die Bühnenmit der Detailatmosphäre so zu verschränken, dass gar noch eine Verdichtung gelingen konnte. Freilich: Die Singdarstellungskunst von Asmik Grigorian ist ein unwiederholbarer Glücksfall. Gleichwohl ist man, auch wenn man nah dran ist, immer noch genügend weit weg, um jede (Bild-)Stimmung aufsaugen zu können. Hier wird ein Dokument zu einem eigenständigen Film- (und Ton-)Kunstwerk: dem Ideal der Aufführung so ideal entsprechend wie eben nur in Glücksfällen. CDs: