Gegen Ungerechtigkeit lässt sich schreiben
Renate Welsh erinnert sich an ihre Kindheit und löst Zeitgeschichte in kleinen, kompakten Geschichten auf.
Ihr Leben hat die Schriftstellerin Renate Welsh der Kinderliteratur gewidmet. Seit 1969 versorgt sie junge Leser mit Büchern, die sie auf Toleranz einschwören und ihnen zeigen, dass es eine Welt außerhalb des Horizonts gibt, den wir gerade überblicken. Mit der Figur des Vamperl hat sie eine überaus beliebte Figur erfunden, die den Kindern deshalb einleuchtet, weil sie erwachsenen Grantlern das Gift aus der Galle saugt.
Im Dezember feiert Renate Welsh ihren 82. Geburtstag – das beste Alter, um sich der eigenen Kindheit zu vergewissern. Das macht sie in Erzählungen, in denen sie von markanten Begebenheiten aus frühen Jahren ihres Lebens erzählt. Verklärung im Abstand von Jahrzehnten liegt ihr gar nicht. Sie war acht Jahre alt, als der Krieg vorbei war, die Schrecken haben sie immunisiert gegen nachträgliches Aufpolieren einer Kindheit. Nichts von Nachsicht, keine Beschwichtigungen, nirgends falsche Rücksichtnahmen. Die Zeit heilt nichts, das macht das Buch zu einer besonderen Lektüre.
Als Erzählerin geht Renate Welsh vor, wie sie es seit Jahrzehnten eingeübt hat. Sie schreibt einfache, klare Sätze, dringt rasch zum Kern der Ereignisse vor, hält sich nicht lang mit Nebensächlichem auf. Ihr Standpunkt ist moralisch abgesichert. Sie wird hellhörig, wenn Menschen übel mitgespielt wird. Die Erfahrungen von Ungerechtigkeit, am eigenen Leib erfahren und an jüdischen Österreichern während des Nationalsozialismus beobachtet, sind der ewige Stachel, der ihr den Gleichmut raubt und zum Schreiben treibt.
Renate Welsh schildert Episoden, in denen die Stimmung einer Zeit aufgehoben ist. Sie löst Zeitgeschichte in kompakten Geschichten auf, in denen der Konflikt kindlichen Denkens mit der Erwachsenenwelt ausbricht. Die Einübung in die Vernunft der Großen verläuft nicht ohne Widerstände. „Fast alles, was ich logisch fand, brachte mich in Schwierigkeiten. Logische Fragen Buch: sie waren offenbar gefährlich, es war besser, den Mund zu halten.“Zu dieser Einsicht kommt das Kind, als es nicht verstehen will, warum es armen Kinder alte Spielsachen spenden soll, wenn doch das Christkind zu ihnen kommt. Schlimme Kinder gehen leer aus, arme nicht. Vor diesem Argument kapituliert die Großmutter. Welsh versucht, nahe an der Logik des Mädchens zu bleiben, ohne sich als Deuterin der Ereignisse wichtig zu machen.
Wer von sich erzählt, kommt um die Familie nicht umhin. Zu den Widerwärtigkeiten der Geschichte lässt sich leicht auf Distanz gehen. Die kleinen Widrigkeiten im Privaten, die sich aufs Gemüt schlagen, machen es hart, die Contenance zu bewahren. Deshalb wieder Zersplitterung in Einzelszenen, die vom Drama des einsamen Kindes berichten. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater als Arzt ist kaum je greifbar. Dann kommt eine Stiefmutter ins Haus, die beim Kind auf Ablehnung stößt. „Ich sehnte mich verzweifelt nach Zärtlichkeit und stehe auf allen Fotos mit vor der Brust verschränkten Armen am Rand.“Diese Erzählung sucht Gerechtigkeit für eine Ungeliebte nachzuholen, deshalb nimmt in diesem Porträt deutlich die Erwachsene Anteil am Geschick der Frau. Die Kinderperspektive wäre eine grausame der entschiedenen Ablehnung, erst spät kommt Verständnis dazu.
Dieser Band lässt erkennen, wo das Engagement der Autorin seinen Ursprung hat: im frühen Erschrecken über das Ungleichgewicht, in dem sich die Welt befindet. Schreiben heißt für Welsh: anschreiben gegen solche Verhältnisse.