Geist & Welt
Das Raubtier Kapitalismus
Im SN-Gespräch zeigt der Ökonom und Publizist Wolfgang Kessler auf, warum der Kapitalismus so erfolgreich war und weshalb er jetzt dringend erneuert werden muss.
SN: Die soziale Marktwirtschaft war ein Erfolgsmodell, auch wirtschaftlich. Wann und warum kam der Bruch?
Kessler: Soziale Marktwirtschaft war das bestimmende Modell der 1960er- und 1970erJahre. In den 1980er-Jahren kam es aus zwei Gründen zum Bruch. Zum einen wegen der neoliberalen Ideologie und der Ausprägung der Wirtschaftswissenschaften, die die soziale Marktwirtschaft als Schuldenwirtschaft attackierten. Zum anderen wegen der Globalisierung, die in den 1980er-Jahren mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedrigkostenländer begann.
Das nahmen neoliberale Wissenschafter zum Anlass zu sagen, die ganze Theorie der sozialen Marktwirtschaft sei falsch. Es gehe darum, die Wirtschaft dem Weltmarkt anzupassen und keine nationale Schuldenwirtschaft mehr zu betreiben. Damit wurde das Modell des kreditfinanzierten Sozialstaats attackiert. Es gab dann in Deutschland Politiker wie Otto Graf Lambsdorff, der den deutschen Arbeitnehmern das japanische Modell empfahl: niedrigere Löhne, weniger Regulierung, keine Staatsschulden und viel länger arbeiten.
SN: Welche Rolle spielte der Zusammenbruch des sozialistischen Gegenmodells im Ostblock durch den Fall der Mauer im Jahr 1989?
In Deutschland ist es ein wesentliches Argument für die soziale Marktwirtschaft gewesen, dass man dem real existierenden Sozialismus in der DDR ein soziales Gegenmodell entgegenstellen müsse. Als dieser real existierende Sozialismus überwunden wurde, hat das Millionen Menschen ihre Menschenrechte und Bürgerrechte gebracht. Gleichzeitig haben aber westliche Regierungen, voran die USA und Großbritannien, damit begonnen, den Neoliberalismus weltweit zu verbreiten, weil es kein Korrektiv mehr gab. In der Folge wurden in den 1990er-Jahren in der Finanzwirtschaft so viele Regeln abgeschafft wie nie zuvor. Es entstand eine Weltwirtschaft, in der jeder binnen Minuten jede Menge Geld in jede Ecke der Welt exportieren konnte. Die Konzerne konnten weltweit Fabriken aufmachen und wieder schließen und ins nächste Billigland weiterziehen.
SN: Warum konnten die Gewerkschaften dieser globalen Wirtschaft keinen globalen Sozialstaat entgegensetzen?
Weil die wirtschaftlichen Bedingungen international völlig unterschiedlich sind. In Deutschland, Schweden, Dänemark, Österreich hätte man das machen können. Da ist die Lohnkonkurrenz relativ gering. Aber seit Spanien, Portugal, Griechenland und die osteuropäischen Staaten der EU beitraten, gibt es die globale Konkurrenz auch innerhalb Europas. Da ist es schwierig, mit gewerkschaftlicher Solidarität gegenzuhalten.
SN: Die wenigen Reichen wurden damit immer reicher, die große Masse der Mittelschicht wurde nicht an den Gewinnen beteiligt. Warum gibt es kein Aufbegehren? Es gab nur Eintagsfliegen wie „Occupy Wall Street“oder die „Gelbwesten“in Frankreich.
In Ländern wie Deutschland oder Österreich profitiert der Großteil der Menschen im Konsumniveau und im Lebensstandard vom neoliberalen Kapitalismus. Damit ist diese Wirtschaftsform auch in die Köpfe der Menschen vorgedrungen. Bei Umfragen in Deutschland sagt die große Mehrheit, die Welt ist ungerecht und wir fühlen uns benachteiligt. Gleichzeitig sind diese Menschen aber dagegen, dass die Steuern für die Reichen erhöht werden und die Armen mehr Geld bekommen. Sie möchten zwar Gerechtigkeit für sich, sie wollen aber die Verhältnisse insgesamt nicht verändert haben. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, sagte auf die Frage, warum nicht einmal die Grünen der ungerechten Verteilung der Gewinne etwas entgegensetzen, die Menschen akzeptierten eine starke Ungerechtigkeit, solange es ihnen selbst relativ gut gehe.
SN: Sie sagen sehr klar, dass eine Wende hin zu einem gerechten und ökologischen Wirtschaften nicht kostenlos sein könne. Keine Partei wagt es aber, mit höheren CO2-Steuern oder ähnlichen Öko-Abgaben in einen Wahlkampf zu gehen.
Ich glaube, dass der globale Kapitalismus jetzt auf seinen größten Feind trifft: die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die Aufheizung des Klimas. Da greifen die Mechanismen des Kapitalismus nicht, weil er vom unbedingten Wachstum lebt.
Die jüngere Generation hat das in ihren „Fridays for Future“ganz deutlich aufgezeigt. Das hat eine Symbolkraft, die weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht, weil der Widerspruch deutlich wird zwischen dem Wohlstand von heute und den Kosten von morgen. Das heißt noch nicht, dass diese jungen Leute alle klimagerecht leben und auf das Handy und vieles andere verzichten. Sie haben aber den Boden für den Einstieg in eine intelligente Klimapolitik aufbereitet: für den Einstieg in eine CO2-Abgabe, die schrittweise erhöht werden kann, für den Einstieg in eine Stromabgabe, die als Ökobonus an jene Haushalte zurückgeht, die Strom sparen, für den Einstieg in eine Handelspolitik, die ökologisch angebaute Baumwolle zollfrei importiert, für den Einstieg in ein soziales Grundeinkommen, das mit anderen Einkommen gegenverrechnet wird.
SN: Kann man durch eine solche ökologische Marktwirtschaft den Kapitalismus zähmen?
Ich spreche von einer Wirtschaft, die gerechter ist und ökologisch verträglicher. Das ist bestimmt nicht mehr der globale Finanzkapitalismus von heute. Die Dynamik der Finanzwirtschaft muss begrenzt und reguliert werden. Die Gewinnmaximierung muss aus bestimmten Lebensbereichen herausgehalten werden, z. B. Wohnen, Pflege, Gesundheit, Wasserversorgung. Das ist in Deutschland eine gewaltige Aufgabe.
SN: Viele sagen, wir würden ja gern, aber es müssten alle mitmachen.
Die, die das sagen, sind genau die, die es nicht wollen. Denn es müssen nicht alle machen. Es gibt in Europa sehr konkurrenzfähige Länder wie Schweden, die seit Langem eine hohe Besteuerung haben und die trotzdem ein Sozialsystem haben, von dem man in Deutschland nur träumt. Es wäre in Schweden nicht möglich, dass Finanzinvestoren so wie in Deutschland in nur einem Jahr fünf Prozent aller Pflegebetten kaufen. Es wäre in Schweden nicht möglich, dass ein Stadtstaat wie Berlin 20.000 Wohnungen aus dem Gemeineigentum an Finanzinvestoren verkauft und hinterher sagt, dass man nicht enteignen dürfe.
Der Staat muss die Grundversorgung dem kapitalistischen Renditedenken entziehen. Länder wie Deutschland oder Österreich sind so stark, sie müssten bei diesem Übergang in eine soziale und ökologische Wirtschaft vorangehen.