Jetzt schlägt die Stunde der Richter
Hat Premierminister Boris Johnson die Queen ausgetrickst? Die britische Justiz steht vor einer sehr heiklen Entscheidung.
LONDON. Es ist ein beispielloser Fall in der langen Geschichte des Vereinigten Königreichs, der vor dem höchsten Gericht des Landes verhandelt wird. Hat Premierminister Boris Johnson mit der von ihm erzwungenen Suspendierung des Parlaments gegen die Verfassung verstoßen? Elf Richter des Supreme Court in London haben mit der Anhörung begonnen. Es geht weniger darum, ob Boris Johnson im juristischen Sinne recht hat, als um die Frage, ob die Justiz in dieser Angelegenheit überhaupt zuständig ist.
Ein schottisches Berufungsgericht hat die fünfwöchige Zwangspause für gesetzeswidrig befunden. Johnson habe vorgehabt, „das Parlament zu behindern“. Zuvor waren zwei Klagen in London und Belfast abgelehnt worden: Es handle sich um eine politische und keine rechtliche Frage.
Es sei schwierig, wie die Gerichte entscheiden könnten, „ohne einen im Grunde politischen Standpunkt einzunehmen“, meinte auch der vor Kurzem erst pensionierte Verfassungsrichter Lord Sumption. „Aber wir befinden uns in einer ungewöhnlichen Situation, zweifellos hat sich die Regierung schmachvoll verhalten.“Johnson sei die Verfassung und politischen Traditionen „mit Hammer und Meißel“angegangen. Die rechtliche Frage ist nicht einfach zu klären, weil es in Großbritannien keine geschriebene Verfassung gibt, die beispielsweise die Kompetenzen des Regierungschefs klar abgrenzen würde. Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten.
Johnson selbst wiederholt seit Tagen nur sein gewohntes Mantra, nach dem er zuversichtlich sei, ein neues Abkommen mit der EU zu erzielen. In Brüssel vermisst man allerdings nach wie vor seriöse Vorschläge aus London.
Was aber geschieht, wenn die Richter des Supreme Court die Zwangspause des Parlaments für „null und nichtig“und damit rechtswidrig erklären? Die Opposition verlangt, dass die Abgeordneten dann sofort ins Unterhaus zurückkehren sollen. Zudem dürften neue Rücktrittsforderungen auf den Premier einprasseln. Denn im Grunde käme solch ein Urteil der Behauptung gleich, Johnson habe Königin Elizabeth II., das neutral agierende Staatsoberhaupt, getäuscht. Sie hat ja auf seinen Rat hin die Suspendierung abgesegnet.
Das zumindest legt die Entscheidung in Schottland nahe. „Es ist eine sehr ernsthafte Anschuldigung, die gegen ihn gemacht wird“, sagt die Rechtswissenschafterin Catherine Barnard von der Uni Cambridge. Gleichwohl verweist die Expertin darauf, dass Johnson auch die Möglichkeit hätte, das Parlament sofort wieder zu suspendieren. Würde er mit solch einem Schritt dann nicht das Gesetz brechen? „Er könnte argumentieren, dass die Regierung gute Fortschritte in den Brexit-Verhandlungen macht und dass diese Art von Prorogation vor einer Queen’s Speech normal ist“, erklärt Barnard. Mit der
„Zweifellos hat sich die Regierung schmachvoll verhalten.“
Queen’s Speech, einem pompös inszenierten Zeremoniell, das am 14. Oktober stattfindet, gibt jede neue Regierung ihr Programm bekannt, traditionell werden die Abgeordneten davor für rund drei Wochen beurlaubt. Nun summiert sich die Zwangspause des Parlaments aber auf fünf Wochen.
Als wahrscheinlich gilt allerdings, dass sich das Höchstgericht zurückhält und feststellt, dass es in dieser hochpolitischen Angelegenheit keinen Einfluss auf den Premierminister und kein Recht auf ein Urteil habe. Ein Spruch wird gegen Ende der Woche erwartet.
Johnson würde sich als Gewinner präsentieren, auch wenn es sich tatsächlich um einen technischen Beweisgrund handle, so Barnard. Trotzdem würde es „bemerkenswerte Konsequenzen“nach sich ziehen, sollte sich der Supreme Court wie gemeinhin erwartet pro Regierung aussprechen. Nicht nur, dass es ohnehin bereits ein „außergewöhnliches Statement“sei, dass das höchste Gericht in Schottland erklärt habe, der Premierminister habe verfassungswidrig gehandelt. Wenn der Supreme Court zu einem anderen Urteil komme, würde es die Entscheidung der schottischen Kollegen umstoßen.
Das aber „würde jenen helfen, die Schottlands Unabhängigkeit befürworten“.