Die Latinos hinken bis heute hinterher
Die zwei Amerikas sind beide einst von Europäern kolonisiert worden. Im Norden stiegen die USA zur Supermacht auf, Lateinamerika hingegen blieb ein Krisenkontinent. Weshalb ist das so?
Lateinamerika steckt schon wieder in der Krise. Das ölreiche Venezuela ist zum Katastrophenfall geworden, der Millionen Flüchtlinge produziert. In Argentinien rollen die Proteste gegen Präsident Mauricio Macri, weil die Bilanz seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik verheerend ist. In Brasilien wächst der Widerstand gegen den ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro, der Maßnahmen zurückdrehen will, die seine Vorgänger zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten gesetzt haben. Zentralamerika und Mexiko sind im Griff der Drogenmafia und der organisierten Kriminalität. Das setzt immer wieder aufs Neue eine Welle von Migranten in Gang, die vor allem in den USA günstigere Lebensbedingungen erhoffen.
Viele Länder Lateinamerikas haben offenbar die Phase der dank Chinas Aufstieg hohen Rohstoffpreise nicht für eine nachhaltige Reformpolitik genutzt. Nirgendwo ist die Abkehr vom „Extraktivismus“wirklich gelungen, die bis heute dazu führt, dass die Wirtschaft vorrangig auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht. Krass bleibt in zahlreichen Latino-Ländern die Kluft zwischen Arm und Reich. Solche Zustände haben noch immer zu tun mit den Folgen der europäischen Kolonialherrschaft, die Lateinamerika in erster Linie die Rolle des Rohstofflieferanten zugewiesen und dabei einer kleinen Elite eine privilegierte Position verschafft hat.
Frappierend ist für den britischen Historiker Niall Ferguson, dass sich die beiden Teile der Neuen Welt im Verlauf der Jahrhunderte so unterschiedlich entwickelt haben. In Nordamerika sind die Vereinigten Staaten die beherrschende Kraft des Westens geworden; sie sind heute die einzige Supermacht. Lateinamerika aber hinkt Angloamerika weit hinterher; es wird die periodisch wiederkehrenden Krisen nicht los. Dabei sind beide Amerikas einst von Europäern kolonisiert worden, Nordamerika von britischen Siedlern und Lateinamerika von Eroberern aus Spanien und Portugal.
Ferguson spricht in seiner Studie „Der Westen und der Rest der Welt“von einer der größten Beobachtungsstudien in der Geschichte. Man nehme zwei abendländische Kulturen, exportiere sie und zwinge sie sehr unterschiedlichen Völkern und Ländern auf, die britische Kultur in Nordamerika und die iberische im Süden des Kontinents. Dann könne man kontrollieren, welche den größeren Erfolg habe.
Dabei waren die im Süden anscheinend in einer günstigeren Ausgangslage. Spanische Eroberer, angelockt von Schätzen an Gold und Silber, unterwarfen mächtige Reiche in Übersee. Vor genau 500 Jahren hat dieser Feldzug der Konquistadoren begonnen: In Mexiko zwang Hernán Cortés in den Jahren von 1519 bis 1521 die Azteken in die Knie. Nur 15 Jahre später zerstörte Francisco Pizarro in Peru das Andenreich der Inka.
Nach Nordamerika kamen arme englische Einwanderer, darunter viele Schuldknechte. Sie suchten in der Neuen Welt ein besseres Leben. Sie wussten, dass sie Jahre harter Fron vor sich hatten. Doch dafür winkte ihnen ein verlockender Preis – nämlich fruchtbares Land und Einfluss auf die Gesetzgebung. Grundbesitz plus Volksvertretung, das sei der nordamerikanische Traum gewesen, merkt Ferguson an.
Ein großer, gravierender Unterschied: In Spanischamerika blieb das Land im Besitz der Krone. Nur eine kleine Elite der Eroberer hatte große Ländereien, für deren Nutzung sie die Arbeitskraft der einheimischen Indiobevölkerung ausbeuten durfte. Die große Mehrheit der Menschen aber erhielt winzige Parzellen. In den britischen Kolonien in Nordamerika wurden die Grundstücke auf zahlreiche Siedler verteilt. Sie bestellten fortan das Land, das die einheimischen Indianer verloren hatten. Demgegenüber hatten in Südamerika die Indios das Land, das zuvor ihnen gehört hatte, für die europäischen Eroberer zu bestellen. Die britischen Siedler hatten das institutionelle Erbe aus ihrer Heimat mitgebracht. Das war insbesondere die Idee des Philosophen John Locke, dass Grundeigentümer auch die politische Macht haben sollten. Indem die Kolonisten ihre eigenen repräsentativen Versammlungen wählten, bahnten sie der Demokratie den Weg.
Mit der Amerikanischen Revolution 1776 sagten sich die Kolonien im Norden von der britischen Krone los. Unter der Regie von George Washington entstand ein Bundesstaat, der sich innerhalb eines Jahrhunderts zum reichsten und mächtigsten Land der Welt entwickeln sollte. Auch in Südamerika stürzte Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem spanischen Kolonialreich ein Imperium. Aber Simon Bolívar gelang es nicht, Vereinigte Staaten von Südamerika aufzubauen. Stattdessen folgten in Lateinamerika 200 Jahre der Spaltung, Instabilität und Unterentwicklung. Ein zu großer Teil der Bevölkerung blieb von politischer Teilhabe ausgeschlossen und von sozialen Chancen abgeschnitten – ein fortdauerndes Erbe bis heute.
Da goldsüchtige Eroberer, dort allerärmste Einwanderer