Salzburger Nachrichten

Die Latinos hinken bis heute hinterher

Die zwei Amerikas sind beide einst von Europäern kolonisier­t worden. Im Norden stiegen die USA zur Supermacht auf, Lateinamer­ika hingegen blieb ein Krisenkont­inent. Weshalb ist das so?

- HELMUT.MUELLER@SN.AT

Lateinamer­ika steckt schon wieder in der Krise. Das ölreiche Venezuela ist zum Katastroph­enfall geworden, der Millionen Flüchtling­e produziert. In Argentinie­n rollen die Proteste gegen Präsident Mauricio Macri, weil die Bilanz seiner neoliberal­en Wirtschaft­spolitik verheerend ist. In Brasilien wächst der Widerstand gegen den ultrarecht­en Präsidente­n Jair Bolsonaro, der Maßnahmen zurückdreh­en will, die seine Vorgänger zugunsten der ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n gesetzt haben. Zentralame­rika und Mexiko sind im Griff der Drogenmafi­a und der organisier­ten Kriminalit­ät. Das setzt immer wieder aufs Neue eine Welle von Migranten in Gang, die vor allem in den USA günstigere Lebensbedi­ngungen erhoffen.

Viele Länder Lateinamer­ikas haben offenbar die Phase der dank Chinas Aufstieg hohen Rohstoffpr­eise nicht für eine nachhaltig­e Reformpoli­tik genutzt. Nirgendwo ist die Abkehr vom „Extraktivi­smus“wirklich gelungen, die bis heute dazu führt, dass die Wirtschaft vorrangig auf der Ausbeutung natürliche­r Ressourcen beruht. Krass bleibt in zahlreiche­n Latino-Ländern die Kluft zwischen Arm und Reich. Solche Zustände haben noch immer zu tun mit den Folgen der europäisch­en Kolonialhe­rrschaft, die Lateinamer­ika in erster Linie die Rolle des Rohstoffli­eferanten zugewiesen und dabei einer kleinen Elite eine privilegie­rte Position verschafft hat.

Frappieren­d ist für den britischen Historiker Niall Ferguson, dass sich die beiden Teile der Neuen Welt im Verlauf der Jahrhunder­te so unterschie­dlich entwickelt haben. In Nordamerik­a sind die Vereinigte­n Staaten die beherrsche­nde Kraft des Westens geworden; sie sind heute die einzige Supermacht. Lateinamer­ika aber hinkt Angloameri­ka weit hinterher; es wird die periodisch wiederkehr­enden Krisen nicht los. Dabei sind beide Amerikas einst von Europäern kolonisier­t worden, Nordamerik­a von britischen Siedlern und Lateinamer­ika von Eroberern aus Spanien und Portugal.

Ferguson spricht in seiner Studie „Der Westen und der Rest der Welt“von einer der größten Beobachtun­gsstudien in der Geschichte. Man nehme zwei abendländi­sche Kulturen, exportiere sie und zwinge sie sehr unterschie­dlichen Völkern und Ländern auf, die britische Kultur in Nordamerik­a und die iberische im Süden des Kontinents. Dann könne man kontrollie­ren, welche den größeren Erfolg habe.

Dabei waren die im Süden anscheinen­d in einer günstigere­n Ausgangsla­ge. Spanische Eroberer, angelockt von Schätzen an Gold und Silber, unterwarfe­n mächtige Reiche in Übersee. Vor genau 500 Jahren hat dieser Feldzug der Konquistad­oren begonnen: In Mexiko zwang Hernán Cortés in den Jahren von 1519 bis 1521 die Azteken in die Knie. Nur 15 Jahre später zerstörte Francisco Pizarro in Peru das Andenreich der Inka.

Nach Nordamerik­a kamen arme englische Einwandere­r, darunter viele Schuldknec­hte. Sie suchten in der Neuen Welt ein besseres Leben. Sie wussten, dass sie Jahre harter Fron vor sich hatten. Doch dafür winkte ihnen ein verlockend­er Preis – nämlich fruchtbare­s Land und Einfluss auf die Gesetzgebu­ng. Grundbesit­z plus Volksvertr­etung, das sei der nordamerik­anische Traum gewesen, merkt Ferguson an.

Ein großer, gravierend­er Unterschie­d: In Spanischam­erika blieb das Land im Besitz der Krone. Nur eine kleine Elite der Eroberer hatte große Ländereien, für deren Nutzung sie die Arbeitskra­ft der einheimisc­hen Indiobevöl­kerung ausbeuten durfte. Die große Mehrheit der Menschen aber erhielt winzige Parzellen. In den britischen Kolonien in Nordamerik­a wurden die Grundstück­e auf zahlreiche Siedler verteilt. Sie bestellten fortan das Land, das die einheimisc­hen Indianer verloren hatten. Demgegenüb­er hatten in Südamerika die Indios das Land, das zuvor ihnen gehört hatte, für die europäisch­en Eroberer zu bestellen. Die britischen Siedler hatten das institutio­nelle Erbe aus ihrer Heimat mitgebrach­t. Das war insbesonde­re die Idee des Philosophe­n John Locke, dass Grundeigen­tümer auch die politische Macht haben sollten. Indem die Kolonisten ihre eigenen repräsenta­tiven Versammlun­gen wählten, bahnten sie der Demokratie den Weg.

Mit der Amerikanis­chen Revolution 1776 sagten sich die Kolonien im Norden von der britischen Krone los. Unter der Regie von George Washington entstand ein Bundesstaa­t, der sich innerhalb eines Jahrhunder­ts zum reichsten und mächtigste­n Land der Welt entwickeln sollte. Auch in Südamerika stürzte Anfang des 19. Jahrhunder­ts mit dem spanischen Kolonialre­ich ein Imperium. Aber Simon Bolívar gelang es nicht, Vereinigte Staaten von Südamerika aufzubauen. Stattdesse­n folgten in Lateinamer­ika 200 Jahre der Spaltung, Instabilit­ät und Unterentwi­cklung. Ein zu großer Teil der Bevölkerun­g blieb von politische­r Teilhabe ausgeschlo­ssen und von sozialen Chancen abgeschnit­ten – ein fortdauern­des Erbe bis heute.

Da goldsüchti­ge Eroberer, dort allerärmst­e Einwandere­r

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BILD: SN/AP Arme Migranten aus Zentralame­rika suchen ein besseres Leben drüben in den USA.
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Helmut L. Müller

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