Ein Gesicht spiegelt die Moderne
Gabriele Münter malte viele der Gäste in ihrem Haus in Murnau. Die Porträts bilden Eckpfeiler der Avantgarde ab – und eine starke Frau.
Frau Decker schnappt nach Luft. Kurz verschlägt es der rüstigen Dame die Sprache. Sie steht vor den Porträts, die Gabriele Münter von ihrer Mutter Ellen Brischke angefertigt hat, und beginnt zu weinen. Im Musikzimmer des Hauses von Gabriele Münter in Murnau in Oberbayern werden die fünf 1934 entstandenen Bilder erstmals zusammengehängt.
Ellen Brischke, eine junge Rheinländerin aus besserem Hause, war ab 1934 Haushälterin bei Gabriele Münter. Die beiden Frauen kochten, aßen und musizierten gemeinsam – und sie frönten dem Schwimmsport. Die sportliche, lebenslustige Frau weckte in der damals 67-jährigen Gastgeberin die Lust am Porträt. Sie malt Ellen Brischke nicht nur in Form zweier Kopfstudien, sondern auch beim Kartoffelschälen im Garten oder am Tisch sitzend. „Gabriele Münter adaptiert ihren Stil am jeweilige Motiv“, sagt Kuratorin Isabelle Jansen.
„Zu Gast bei Gabriele Münter“nennt sich die Sonderausstellung, die zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum der Nutzung des Münter-Hauses als Museum gezeigt wird. Seit im Münchner Lenbachhaus, das die größte Sammlung von Werken Gabriele Münters und ihres Lebensgefährten Wassily Kandinsky beheimatet, der Künstlerin 2017 eine Personale gewidmet hat, zieht das Murnauer Domizil der Künstlerin mehr Besucher denn je an. Sie lassen sich von der gelebten Kunstgeschichte inmitten oberbayerischer Idylle bezaubern, die sich nicht nur in den bunt bemalten Küchenkredenzen und Kommoden zeigt. Unzählige Künstler ihrer Zeit gingen im „Russenhaus“, wie die Einheimischen den Treffpunkt der russisch geprägten Kunst-Avantgarde nannten, ein und aus.
1908 hatten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky den Sommer in Murnau verbracht. Wenige Monate später gründeten sie die „Neue Künstlervereinigung München“, die sich wie ein Who’s who der späteren Avantgarde liest. 1909 kaufte Gabriele Münter das Haus in Murnau, hier fanden sowohl die Künstlerin als auch Kandinsky zu einem neuartigen, expressionistischen Malstil. Mit Franz und Maria Marc sowie August und Elisabeth Macke erarbeitete Kandinsky 1911 hier wesentliche Teile des berühmten Almanachs „Der blaue Reiter“.
Man hätte die Ausstellung auch über den prominenten Gast Arnold Schönberg, dessen revolutionäre Harmonielehre starken Eindruck bei Kandinsky hinterlassen hat, erzählen können, sagt Matthias Mühling, Direktor des Lenbachhauses. „Wir haben uns aber bewusst für Ellen Brischke entschieden. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Frauen.“Dass sich Brischke in den Besitzer einer Autovermietung verliebte und diesen später heiratete, zeigt, dass im Fremdenverkehrsörtchen auch über die KunstAvantgarde hinaus die Moderne Einzug gehalten hatte.
Die neueste Technik hat es auch Gabriele Münter angetan. „Wenigen ist bewusst, dass ihre Karriere als Fotografin begonnen hat“, sagt Isabelle Jansen. Dass sie bereits 1898 einen Fotoapparat erworben, sich also früh mit dem neuen Medium beschäftigt habe, zeige ihre Offenheit. Im Erdgeschoß bilden Schwarz-Weiß-Fotografien ihre Auseinandersetzung mit Murnau und dessen Bewohnern ab: Frauen in Tracht vor deren Häusern, spielende Kinder, Ortsleben.
Die neue Ausstellung im MünterHaus bietet seit 11. September einen guten Einstieg in Leben und Werk der faszinierenden Künstlerin. Weitaus umfangreicher ist die Sammlung von Gabriele Münters Werken, die wenige Gehminuten entfernt im Schloßmuseum Murnau gezeigt wird. Neben achtzig Gemälden bilden auch Druckgrafiken oder Bleistiftskizzen Münters Entwicklung zu einer bedeutenden Vertreterin der Moderne ab.
Ausstellung: „Zu Gast bei Gabriele Münter“, Münter-Haus Murnau, bis September 2021.