Der Mauerfall weckte Hoffnung auf bessere Welt
Als Glücksfall der Geschichte wirkt das Geschehen im „Wunderjahr“1989. Aber heute wissen wir: Die Welt hat Chancen verpasst.
Neue mentale Mauer zwischen Ost und West
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die ein besonderer Moment der Geschichte gewesen ist. Das zeigt schon die Tatsache, dass 1989 das neue Modell einer friedlichen Revolution kreiert hat. Es hat später zahlreiche Volkserhebungen inspiriert, ist aber, wie das Scheitern der Arabellion 2011 illustriert, singulär geblieben.
Die Euphorie von 1989 ist deshalb ganz und gar berechtigt: Die Glücksgefühle der Deutschen darüber, dass ihnen eine historische Wendung unverhofft die nationale Einheit beschert hat. Der Jubel von Millionen Menschen in Ostmitteleuropa über den großen Freiheitsgewinn nach Jahrzehnten des Geknechtetseins hinter dem Eisernen Vorhang. Das kollektive Aufatmen der Menschheit über das Ende des Kalten Kriegs, der waffenstarrend die Welt in den atomaren Abgrund hat blicken lassen.
1989 bedeutete den Schlusspunkt der Spaltung Europas und der bipolaren Ära mit zwei gegensätzlichen Lagern. Es war eine Zeitenwende, aber kein geschichtlicher Nullpunkt. Ahistorisch ist die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“, das den Siegeszug der liberalen Demokratie weltweit zu verheißen schien. Diese Illusion zerplatzte, als die Flugzeuge islamistischer Terroristen am 11. September 2001 in das World Trade Center in New York rasten. Sie ist heute, da autokratische Mächte den demokratischen Westen neu herausfordern, endgültig dahin.
Drei Jahrzehnte nach 1989 verdichtet sich allerdings der Eindruck, dass damals die Chance auf eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt verpasst worden ist. Man könnte wie der Publizist Paul Lendvai von einer „verspielten Welt“sprechen.
Der Sieg im Kalten Krieg verleitete die Supermacht USA zu einer Triumph-Politik, die in einer strategischen Überdehnung durch Militärinterventionen endete. Statt eines kooperativen Verhältnisses zu Russland baute sich eine neue Gegnerschaft des Westens zum alten Rivalen in Moskau auf. Die „Friedensdividende“, die große Gelder von der Rüstung in das zivile Engagement
umlenken sollte, blieb weitgehend aus. Beim Aufbruch in eine neue Ära der Globalisierung ließ der Westen der Macht des Marktes ungeregelt freie Bahn, bis in der globalen Finanzkrise 2008 fast alles aus den Fugen geriet. Die Kluft zwischen Arm und Reich riss immer weiter auf und befeuerte neuerlich Konflikte. Den Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 ließ man als Gelegenheit verstreichen, einen energischen Kampf gegen die Klimakrise zu starten, die inzwischen zum Weltproblem Nr. 1 angewachsen ist.
30 Jahre nach dem Mauerfall herrscht folglich eine eher gedämpfte Stimmung. Deutschland hebt diesmal nicht so sehr das mit großer Anstrengung Gelungene der Einheit hervor. Stattdessen beleuchtet man grell die fortbestehenden Unterschiede zwischen Ost und West. Zu stark hat der Westen bei der Vereinigung dominiert. Zu sehr fühlen sich heute die Ostdeutschen zurückgesetzt. Das Empfinden, dass die Macht im Land ungleich verteilt sei, ändert sich nicht einmal durch die Feststellung, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die beiden obersten Staatsämter (Bundeskanzlerin & Bundespräsident) von zwei Ostdeutschen (Angela Merkel & Joachim Gauck) ausgeübt worden sind. Randparteien links und rechts finden im Osten größeren Zuspruch, weil diese nicht als typische „Westparteien“gelten. Dennoch ist die Formel von der „Mauer in den Köpfen“inzwischen eine überholte Übertreibung.
Zwischen dem Westen und dem Osten Europas richtet sich eine neue mentale Mauer auf. In der EU sind heute Gesellschaften mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen vereint: Der in Integration geübte Westen mag bereitwillig Kompetenzen an die supranationale Ebene abgeben. Für den Osten, der mit der Befreiung vom sowjetischen Joch erst die eigene Nation zurückgewonnen hat, trifft das viel weniger zu. Der alternde Westen braucht zuwandernde Fachkräfte. Der Osten aber fürchtet durch millionenfache Abwanderung von Gebildeten in den Westen um seine Identität.
Im Klub von Brüssel sehen sich die Ostmitteleuropäer als „Bürger zweiter Klasse“. Solche Gefühle des Zurückgesetztseins bringen rechtspopulistische Kräfte an die Regierung, die Errungenschaften der Wende antasten. Heute gilt es das Erbe von 1989 zu verteidigen.