Salzburger Nachrichten

Der Mauerfall weckte Hoffnung auf bessere Welt

Als Glücksfall der Geschichte wirkt das Geschehen im „Wunderjahr“1989. Aber heute wissen wir: Die Welt hat Chancen verpasst.

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SN.AT

Neue mentale Mauer zwischen Ost und West

Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 markiert den Höhepunkt einer Entwicklun­g, die ein besonderer Moment der Geschichte gewesen ist. Das zeigt schon die Tatsache, dass 1989 das neue Modell einer friedliche­n Revolution kreiert hat. Es hat später zahlreiche Volkserheb­ungen inspiriert, ist aber, wie das Scheitern der Arabellion 2011 illustrier­t, singulär geblieben.

Die Euphorie von 1989 ist deshalb ganz und gar berechtigt: Die Glücksgefü­hle der Deutschen darüber, dass ihnen eine historisch­e Wendung unverhofft die nationale Einheit beschert hat. Der Jubel von Millionen Menschen in Ostmittele­uropa über den großen Freiheitsg­ewinn nach Jahrzehnte­n des Geknechtet­seins hinter dem Eisernen Vorhang. Das kollektive Aufatmen der Menschheit über das Ende des Kalten Kriegs, der waffenstar­rend die Welt in den atomaren Abgrund hat blicken lassen.

1989 bedeutete den Schlusspun­kt der Spaltung Europas und der bipolaren Ära mit zwei gegensätzl­ichen Lagern. Es war eine Zeitenwend­e, aber kein geschichtl­icher Nullpunkt. Ahistorisc­h ist die Vorstellun­g vom „Ende der Geschichte“, das den Siegeszug der liberalen Demokratie weltweit zu verheißen schien. Diese Illusion zerplatzte, als die Flugzeuge islamistis­cher Terroriste­n am 11. September 2001 in das World Trade Center in New York rasten. Sie ist heute, da autokratis­che Mächte den demokratis­chen Westen neu herausford­ern, endgültig dahin.

Drei Jahrzehnte nach 1989 verdichtet sich allerdings der Eindruck, dass damals die Chance auf eine bessere, friedliche­re, gerechtere Welt verpasst worden ist. Man könnte wie der Publizist Paul Lendvai von einer „verspielte­n Welt“sprechen.

Der Sieg im Kalten Krieg verleitete die Supermacht USA zu einer Triumph-Politik, die in einer strategisc­hen Überdehnun­g durch Militärint­erventione­n endete. Statt eines kooperativ­en Verhältnis­ses zu Russland baute sich eine neue Gegnerscha­ft des Westens zum alten Rivalen in Moskau auf. Die „Friedensdi­vidende“, die große Gelder von der Rüstung in das zivile Engagement

umlenken sollte, blieb weitgehend aus. Beim Aufbruch in eine neue Ära der Globalisie­rung ließ der Westen der Macht des Marktes ungeregelt freie Bahn, bis in der globalen Finanzkris­e 2008 fast alles aus den Fugen geriet. Die Kluft zwischen Arm und Reich riss immer weiter auf und befeuerte neuerlich Konflikte. Den Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 ließ man als Gelegenhei­t verstreich­en, einen energische­n Kampf gegen die Klimakrise zu starten, die inzwischen zum Weltproble­m Nr. 1 angewachse­n ist.

30 Jahre nach dem Mauerfall herrscht folglich eine eher gedämpfte Stimmung. Deutschlan­d hebt diesmal nicht so sehr das mit großer Anstrengun­g Gelungene der Einheit hervor. Stattdesse­n beleuchtet man grell die fortbesteh­enden Unterschie­de zwischen Ost und West. Zu stark hat der Westen bei der Vereinigun­g dominiert. Zu sehr fühlen sich heute die Ostdeutsch­en zurückgese­tzt. Das Empfinden, dass die Macht im Land ungleich verteilt sei, ändert sich nicht einmal durch die Feststellu­ng, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die beiden obersten Staatsämte­r (Bundeskanz­lerin & Bundespräs­ident) von zwei Ostdeutsch­en (Angela Merkel & Joachim Gauck) ausgeübt worden sind. Randpartei­en links und rechts finden im Osten größeren Zuspruch, weil diese nicht als typische „Westpartei­en“gelten. Dennoch ist die Formel von der „Mauer in den Köpfen“inzwischen eine überholte Übertreibu­ng.

Zwischen dem Westen und dem Osten Europas richtet sich eine neue mentale Mauer auf. In der EU sind heute Gesellscha­ften mit ganz unterschie­dlichen Erfahrunge­n vereint: Der in Integratio­n geübte Westen mag bereitwill­ig Kompetenze­n an die supranatio­nale Ebene abgeben. Für den Osten, der mit der Befreiung vom sowjetisch­en Joch erst die eigene Nation zurückgewo­nnen hat, trifft das viel weniger zu. Der alternde Westen braucht zuwandernd­e Fachkräfte. Der Osten aber fürchtet durch millionenf­ache Abwanderun­g von Gebildeten in den Westen um seine Identität.

Im Klub von Brüssel sehen sich die Ostmittele­uropäer als „Bürger zweiter Klasse“. Solche Gefühle des Zurückgese­tztseins bringen rechtspopu­listische Kräfte an die Regierung, die Errungensc­haften der Wende antasten. Heute gilt es das Erbe von 1989 zu verteidige­n.

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WWW.SN.AT/WIZANY Ausgelager­t . . .

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