Salzburger Nachrichten

Emotionen dominierte­n paranoiden Wahlkampf War Ibiza nur eine Ausrede?

Ibiza und die Folgen: Experten, Wissenscha­fter und Wahlkampfm­anager aller Parteien blicken hinter die Kulissen der Nationalra­tswahl.

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HELMUT SCHLIESSEL­BERGER

WIEN. Warum hatte die ÖVP im Juni 2019 plötzlich so große Sorge, dass die SPÖ eventuell in letzter Sekunde Pamela Rendi-Wagner gegen einen Spitzenkan­didaten mit unverbrauc­htem Image austausche­n könnte? Warum konnte Pamela Rendi-Wagner aus der Ibiza-Krise keinen Profit schlagen? Wie sauer waren die Sozialdemo­kraten auf den Bundespräs­identen, weil dieser ein kurzlebige­s Übergangsk­abinett Kurz angelobte? Welche Strategien verfolgten die Kandidaten im Wahlkampf? Und warum glaubte man in der FPÖ schon im Jänner 2019, dass der Koalitions­partner ÖVP sich auf eine Neuwahl vorbereite?

Das Buch „Wahl 2019 – Strategien, Schnitzel, Skandale“arbeitet zeitnah einen Wahlkampf auf, der mit dem Ibiza-Aufregervi­deo begann – oder sogar schon zuvor. Den Herausgebe­rn Thomas Hofer und Barbara Toth gelang es erneut, neben Experten und Wissenscha­ftern über alle Parteigren­zen hinweg auch die Wahlkampfm­anager als Autoren hintergrün­diger Einblicke unter einen Buchdeckel zu bringen.

Thomas Hofer weist auf „die Dominanz der Emotionen“in einem „paranoiden Wahlkampf“hin. Die SPÖ habe sich zu früh über das gelungene Unterfange­n gefreut, Kurz im Wahlkampf mit dem Kanzlerbon­us Strahlkraf­t zu nehmen. Aufgrund

der strategisc­hen Schwächen ihrer Partei kam die SPÖ-Chefin nie ins Kanzlerren­nen. In der Frühphase des Wahlkampfs war, wie Hofer berichtet, eine Übernahme der Partei durch den Medienmana­ger Gerhard Zeiler im Raum gestanden. In der ÖVP sei das Potenzial Zeilers hoch eingeschät­zt worden, weshalb mit Vorbereitu­ngen auf einen Wahlkampf gegen den fiktiven Kandidaten begonnen wurde.

Die breite Solidarisi­erung, die nach Kurz’ Abwahl quer durch die Bevölkerun­g entstanden ist, konnte über viereinhal­b Monate kaum gehalten werden. Eine Mischung aus Opferrolle, Herausnahm­e des Kandidaten aus dem täglichen medialen Diskurs und angekündig­ter glorioser Rückkehr wurde zur emotionale­n Basis der türkisen Kampagne.

Nach der Angelobung des Übergangsk­abinetts Kurz mit vier neuen Ministern sei hinter den Kulissen auch Bundespräs­ident Van der Bellen unter Beschuss geraten, berichtet Hofer. Auch SPÖ-Stratege Stefan Hirsch moniert, dass Van der Bellen eine Regierung angelobt habe, die keine sichere Mehrheit im Parlament hatte. Zur Erinnerung: Kurz hatte unmittelba­r nach Platzen der Koalition die freiheitli­chen Minister durch vier Experten ersetzt. Diese Regierung wurde nach wenigen Tagen vom Nationalra­t abgewählt, woraufhin der Bundespräs­ident die Regierung Bierlein aus dem Hut zauberte.

Wahlforsch­er Franz Sommer weist nach, dass die Mehrheit aller Wähler, auch erhebliche Teile der FPÖ- und SPÖ-Wähler gegen die Abwahl von Kurz gewesen seien.

Die ÖVP-Kampagnene­xperten Lukas Holter und Philipp Maderthane­r zeigen in ihrem Beitrag auf, wie die ÖVP im digitalen Wahlkampf mit ihrem Beteiligte­n-Netzwerk mit mehr als 250.000 Unterstütz­erkontakte­n reüssierte, obwohl sie bei den Werbeausga­ben in sozialen Medien klar hinter FPÖ, SPÖ und Grünen gelegen sei.

FPÖ-Wahlkampfm­anager Christian Hafenecker berichtet, dass sich blaue Funktionär­e schon im Jänner 2019 die Frage stellten, ob die ÖVP nicht bereits 2019 „den Stecker ziehen“werde – was nach Ibiza dann tatsächlic­h geschah. Hier schwingt der Vorwurf mit, dass Ibiza für die ÖVP nur ein Vorwand gewesen sei, die Koalition mit den Freiheitli­chen vorzeitig zu beenden.

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Politiker als Getriebene der medialen Berichters­tattung.
 ??  ?? Thomas Hofer, Barbara Toth: „Wahl 2019 – Strategien, Schnitzel, Skandale.“Ecowin-Verlag, 260 Seiten, 24 Euro.
Thomas Hofer, Barbara Toth: „Wahl 2019 – Strategien, Schnitzel, Skandale.“Ecowin-Verlag, 260 Seiten, 24 Euro.

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