Die Rhetorik ist sexuell aufgeladen
Immer mehr britische Politikerinnen geben nach Drohungen auf.
LONDON. Sie hatte lediglich ein TV-Interview mit Ex-Premier Tony Blair gelobt, aber das reichte aus, dass die britische Labour-Abgeordnete Angela Rayner in den sozialen Medien Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhielt.
Heidi Allen, die aufgrund des Brexit-Kurses von den regierenden Tories zu den Liberaldemokraten gewechselt ist, erzählte ebenfalls von aggressiven E-Mails, die zu ihrem Alltag gehörten. Sie werde auf der Straße beschimpft und auf Twitter beleidigt. „Ich bin erschöpft von der Invasion in mein Privatleben und den Einschüchterungen.“
Und auch die konservative Kulturministerin Nicky Morgan klagt, dass Beleidigungen und „gravierende Auswirkungen auf meine Familie“Teil des Jobs eines „modernen Abgeordneten“geworden seien. Während Rayner bei der Neuwahl am 12. Dezember um den Wiedereinzug ins Parlament kämpft, haben Allen und Morgan entschieden, nicht mehr zu kandidieren – auch als Konsequenz aus dem veränderten politischen Klima. Die drei Frauen stehen mit ihren Sorgen nicht allein da. „Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass unsere toxische Politik gute weibliche Abgeordnete vertreibt“, sagte Sam Smethers, Chefin der sich für Frauenrechte und Gleichberechtigung einsetzenden Organisation Fawcett Society.
Tatsächlich ist rund ein Drittel der gut 60 Parlamentarier, die bei der Wahl nicht mehr antreten wollen, weiblich. Während Männer vorwiegend aus Altersgründen zurücktreten, liegt es Experten zufolge bei den Frauen vor allem an den Folgen der polarisierten Stimmung beim Thema Brexit und der hitzigen Debatten im Parlament um den EUAustritt.
Das begann bereits vor dem Referendum 2016, als die Labour-Abgeordnete und leidenschaftliche EUBefürworterin Jo Cox auf offener Straße von einem rechtsextremen Briten getötet wurde. Der Wahlkampf war völlig aus den Fugen geraten, der Ton schrill, aggressiv, beleidigend. Seitdem haben die Anfeindungen und der Hass gegen Politiker noch weiter zugenommen. Es trifft Männer ebenfalls, doch überproportional viele Frauen, wie selbst männliche Kollegen zugeben. Über soziale Netzwerke werden Politikerinnen bedroht und beschimpft, erhalten Gewaltandrohungen gegen sich und ihre Familien. „Sexuell aufgeladene Rhetorik hat bei den Übergriffen im Netz auf weibliche Abgeordnete überhandgenommen, mit Drohungen, uns zu vergewaltigen und mit Verweisen auf unsere Genitalien“, sagte die konservative Parlamentarierin Caroline Spelman. Es sei deshalb nicht überraschend, dass so viele gute Kolleginnen nicht mehr kandidierten. Auch Spelman hört nach 22 Jahren im Unterhaus auf.
Immer wieder forderten Politikerinnen Premierminister Boris Johnson auf, die Sprache zu mäßigen. Der verharmloste im Gegenzug Todesdrohungen gegen Parlamentarierinnen als „Humbug“.