Der Kirschbaum in Opas Garten
„Salzburg schreibt die besten Geschichten“: Heute küren SN und story.one den zweiten Wochensieger. Die in Oberösterreich lebende Renate Schiansky kramte in Erinnerungen.
„Der Baum kommt weg.“– Noch heute sehe ich Großvater im Garten stehen und missbilligend den alten Kirschbaum betrachten. Er zupfte hier an einem Blatt und da an einem Zweig und brummte und grummelte vor sich hin.
„Warum?“, fragte mein Vater, der wie jeden Sommer zwei seiner Urlaubswochen mit mir bei Großvater in Salzburg verbrachte. Ich war damals sieben oder acht Jahre alt und liebte die Ferien bei Opa, das alte Haus und den großen Garten. Mein Lieblingsplatz war unter dem Kirschbaum, dort hielt ich Picknick mit meinen Stofftieren, ließ meine Spielzeugautos fahren oder las in meinen Kinderbüchern. Dass der Baum weg sollte, stimmte mich traurig.
„Er trägt nicht mehr“, erklärte Großvater. „Schau, kaum eine Kirsche, und die wenigen, die kamen, haben die Vögel weggepickt.“
„Na wenigstens musst du keine Marmelade mehr einkochen“, grinste mein Vater und erntete dafür einen strafenden Blick von Opa. „Völlig morsch alles“, knurrte er verstimmt.
„Und der Sturm vor zwei Wochen hat auch noch so viele Äste abgebrochen. Das wird nichts mehr.“
„Wir können doch die morschen Äste abschneiden und den Baum stehen lassen“, meinte mein Vater. „Zu viel Mühe“, erklärte Opa. „Außerdem beschweren sich ständig die Nachbarn über das Fallobst und Laub, das über den Zaun fällt.“
Ich sagte nichts. Wenn Großvater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte er stur sein wie ein Maulesel. Also sammelte ich die herabgefallenen Kirschen auf, sortierte ein paar für ein Kompott aus und warf die anderen auf den Kompost. Ich pflückte die wenigen reifen Früchte, die ich erreichen konnte, vom Baum und legte sie ins Körbchen auf den Küchentisch.
„Gut sind sie!“Mein Vater spuckte einen Kirschkern durch das offene Fenster in den Garten. „Vielleicht wächst ja ein neuer Baum draus“, scherzte er.
Das brachte mich auf eine Idee: Ich schlich hinaus, fischte die vorhin weggeworfenen Kirschen wieder aus dem Kompost und grub sie im Halbkreis um den alten Baum ein. Vielleicht, so hoffte ich, wüchse ja wenigstens aus einem Kern ein neuer Baum.
Und tatsächlich: Als wir im nächsten Sommer wieder zu unserem Urlaub bei Großvater eintrafen, war zwar der alte Baum gefällt, aber den Stumpf hatte Opa stehen lassen, als Tischchen oder Hocker für mich. Und daneben, kaum einen Meter entfernt, wuchs ein junger Kirschbaum heran!
Erst Jahre später hat mein Großvater mir gestanden, dass er mich beim Eingraben der Kerne beobachtet und daraufhin das neue Bäumchen im Gartencenter erstanden hatte.
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