Osteuropa: Die große Ernüchterung
Bilanz nach 30 Jahren. Nicht nur in Ungarn, einst Vorreiter der Wende, ist eine „Erosion der Demokratie“zu beklagen.
Genau 30 Jahre später wünscht kaum jemand im Osten Europas die alten Verhältnisse zurück. Aber die Euphorie aus der Zeit der Wende ist längst verflogen. In den ostmitteleuropäischen Ländern, die seit eineinhalb Jahrzehnten zur Europäischen Union gehören, herrscht zum Teil große politische Unzufriedenheit. Sie bringt Rechtspopulisten an die Regierung, die nicht davor zurückschrecken, politische Errungenschaften der Wende von 1989 zu demontieren. Garton Ash beklagt in einem aktuellen Nachwort zu seinem Buch „Ein Jahrhundert wird abgewählt“, die „Erosion der Demokratie“sei in Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán schon so weit fortgeschritten, dass dort nicht einmal eine gut organisierte Oppositionspartei in nächster Zeit eine landesweite Wahl gewinnen könnte. Solche Rückschritte gerade in Ländern, die wie Polen und Ungarn einst Vorreiter der Wende von 1989 waren, können wir nur als große Enttäuschung verbuchen.
Bei der Suche
nach den Gründen für diese politische Regression stößt man zuallererst auf die Tatsache, dass der ökonomische Systemwechsel vielen Menschen im Osten Europas noch immer zu schaffen macht. Die Marktwirtschaft kam, wie besonders das Beispiel Polen zeigt, abrupt und schockartig. Es mangelte an einer Sozialpolitik, welche die harten Folgen der ökonomischen Transformation hätte abfedern können. Ausländische Kapitalisten strömten ins Land. Das hinterließ das nagende Gefühl einer neuen Abhängigkeit anstelle der erhofften Unabhängigkeit, und zwar national wie individuell. Im Zuge der Privatisierung ging das bisherige Staatseigentum zwar großteils in einheimische Hände über. Aber dieser Prozess verlief nicht nur rasant, sondern auch undurchsichtig. Eine neue Klasse nachkommunistischer „Oligarchen“mit enormem Einfluss bildete sich heraus. Diese bezahlten Politiker oder gingen selbst in die Politik – wie der amtierende tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš. Viele Kollaborateure des alten, kommunistischen Regimes gehörten unter der neuen, demokratischen Regierung zu den ökonomischen Gewinnern. Das weckte im Volk viel Verdruss über die „korrupte“Elite.
Mit großem finanziellen
Aufwand ist zwar der große Teil der Infrastruktur in der Ex-DDR und in der bisherigen Bundesrepublik angeglichen worden. Aber auch 30 Jahre später bestehen weiterhin deutliche Unterschiede. Bei Einkommen, Pensionen und Vermögen hinken die Ostdeutschen noch immer hinterher. Mit Boomstädten wie Jena oder Potsdam gibt es heute durchaus jene „blühenden Landschaften“in der ehemaligen DDR, die Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Vereinigung 1990 versprochen hat. Doch es mangelt im deutschen Osten an Bundesbehörden und Konzernzentralen. Die Spitzenpositionen der Verwaltung, der Justiz, der Universitäten und der öffentlich-rechtlichen Medien sind fast ausschließlich von Westdeutschen besetzt. Drei Jahrzehnte nach der Wende fühlen sich etwa 50 Prozent der Ostdeutschen noch immer als „Bürger zweiter Klasse“; sie empfinden sich als bevormundet, als fremd im eigenen Land. Noch immer stehen sich, nach dem Urteil vieler Beobachter in Deutschland, „JammerOssis“und „Besser-Wessis“gegenüber. Nicht einmal die Klischeeformel von der „Mauer in den Köpfen“ist aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden.
Es ist eine Übertreibung
zu sagen, dass es Zeit für eine weitere Revolution im demokratisch gewordenen Ostmitteleuropa ist. Doch die Generation der Nach-89er ist heute aufgerufen, die Errungenschaften der Wende zu verteidigen.