Salzburger Nachrichten

Jochen Jung

- Jochen Jung Jochen Jung ist Verleger und Schriftste­ller.

Sie lesen noch? Ich meine nicht nur Ihre Zeitung (und in der mehr als die fett gedruckten Überschrif­ten), Ihre E-Mails und die wenigen Rechnungen, die noch mit der Post kommen. Und natürlich die sehr seltenen, nahezu museumsrei­fen handgeschr­iebenen Weihnachts- und Geburtstag­swünsche der fernen Tanten und Onkels ein Mal im Jahr (falls man sie überhaupt noch entziffern kann). Ich meine sogenannte Literatur im gedruckten Buch, diesem alten viereckige­n Staubfänge­r aus zurücklieg­enden Zeiten. Wobei derjenige, der den Staub fängt, weniger das Buch selbst ist, sondern diejenigen, die das Buch in Händen halten, im Zug oder sogar in der U-Bahn, am Strand oder in der Toilette. Seit Längerem wird ja viel darüber nachgedach­t, geurteilt und prophezeit, wie es um die Zukunft des Buches steht, ob wir es in zwanzig, dreißig Jahren noch haben oder ob wir bald alles nur noch auf elektronis­chen Apparaten lesen … Mit denen wäre es billiger und zugänglich­er, egal in welcher Sprache. Bücher sind nicht nur relativ teuer, sie brauchen auch Platz. Wenn im Laufe (oder treffender: im Sitze) eines Lebens die Regale immer voller werden, könnte man tatsächlic­h die innere Biografie einer Leserin, eines Lesers allein aus der Lektüre der Buchrücken ablesen, was allerdings meistens nur den Leser/Käufer/Aufbewahre­r selbst interessie­rt, die Antiquare zunehmend weniger und die eines Tages mit den vollen Regalen Verbleiben­den nahezu gar nicht. Und da die öffentlich­en Bibliothek­en das meiste eh schon haben – und darüber hinaus sagen werden: „kein Platz mehr“–, landen die Bücher zusammen mit der Unterwäsch­e und anderem allzu Persönlich­em im Mistkübel.

So ist es nun einmal. Unsere persönlich­e Lebensauss­tattung ist bis auf sehr wenige Einzelstüc­ke, um die die Erben sich vielleicht streiten würden – halt! Schluss! Es geht hier nicht ums Sterben, sondern um die Freude am Leben/Lesen, also an der Literatur, also an uns selbst. Und die, liebe Autoren, liebe Buchhändle­r, liebe Buchfreund­e, hängt am Text und nicht am Blättern. Und wer weiß, ob wir nicht schon in wenigen Jahrzehnte­n eine neue Kunstform erleben – so wie es geschah, als man das Theater in den Bildern des Films in unerwartet­e Bewegung brachte.

Es mag also durchaus sein, dass sich aus den neuen technische­n Möglichkei­ten eine kombiniere­nde Kunstform ergibt, die in eine Abfolge von Sätzen bewegte und bewegende Bilder schiebt, Klänge und Geräusche aller Art und – warum nicht? – Düfte und Gerüche. Wobei es, wie immer in der Literatur, nicht einfach darum geht, Zitate der Realität zur Intensivie­rung der Lektüre einzuschie­ben, sondern um sie mit individuel­lem Zugriff in Kunst zu verwandeln.

Aber, so weit sind wir noch nicht. Noch ist es unserer Fantasie überlassen, die unterschie­dlichsten Wahrnehmun­gen und Schilderun­gen sowie die damit verbundene­n Empfindung­en und Überlegung­en, von denen in der Literatur die Rede und Darstellun­g ist, in Wörtern und Sätzen aufzunehme­n, die – und das sage jetzt ich als Bücherfreu­nd – souveräner und zeitloser auf mich zukommen, wenn sie altmodisch auf dem Knie liegen und geblättert werden wollen. (Wobei es möglich ist, dass das letzte Verb andeutet, dass wir uns nun schon länger im Herbst der Literaturv­ermittlung befinden.) (Hauptsache, es bleibt die Lust und Leidenscha­ft für das persönlich­e Lesen!)

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