Die große Elektro-Hoffnung
Unter Strom.
Das Volkswagen-Werk Zwickau: Graue Fabrikhallen, wohin das Auge blickt. Nur eines der quaderförmigen Gebäude ist knallbunt verziert. Hier feierte der Konzern Anfang der Woche den Produktionsstart des ID.3. Auf dem Mittelklassewagen lasten enorme Hoffnungen: Er ist das erste richtige Elektroauto des VW-Konzerns. Kanzlerin Angela Merkel sieht in dem Gefährt einen wichtigen Teil der Mobilitätswende. Sie erwarte, dass das neue Auto „wie Käfer und Golf zu einem wahren Volks-Wagen wird“, sagte sie vor Ort bei der Enthüllung der offiziell ersten Exemplare. Für Konzernchef Herbert Diess hängt von dem Auto das Schicksal des Unternehmens ab: „Ob es zum Niedergang der deutschen Autoindustrie kommt oder nicht, liegt bei uns.“
Der Produktionsstart des ID.3 ist tatsächlich von hohem Symbolwert. Er steht nicht nur für die geistige Trendwende im VWKonzern, dem noch vor wenigen Jahren die Atmosphäre so egal war, dass er mit Abgaswerten getrickst hat. Er steht auch für die Weiterentwicklung des Standorts Deutschland. „Mit Recht kann man sagen, dass VW heute in eine neue Ära geht“, sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer von der Universität Duisburg-Essen. „Es ist ein historisches Ereignis.“
Der ID.3 ist nach Ansicht der Experten so wichtig, weil der wichtigste deutsche Autohersteller, gleichzeitig der größte der Welt, in die Liga von Tesla, BYD oder Nissan aufschließt. Denn es waren bisher ausschließlich Firmen aus den USA, China und Japan, die eine ernst gemeinte Massenproduktion von batteriebetriebenen Wagen in Angriff genommen haben. Zugleich haben sie mit ihren futuristischen Ingenieurleistungen ein modernes Image aufgebaut, neben dem deutsche Produkte plötzlich alt aussahen.
Deshalb platziert Diess den ID.3 nun anstelle des Golf in der Mitte der VW-Modellpalette – so wie dieser einst den Käfer verdrängt hat. Der elektrische ID.3 will das
Standard-Auto für ganz normale Leute sein.
Dazu muss der ID.3 nicht das beste oder modernste Elektroauto der Welt werden, aber er muss hohe Zuverlässigkeit bei schönem Design zu einem akzeptablen Preis bieten. Das scheint gelungen. Das Modell mit der kleinsten Batterie kostet knapp 30.000 Euro, mit Förderung werden daraus 26.000 Euro – das sind zwar noch einige Tausend Euro mehr als ein einfacher Golf, aber der Preis soll sinken. Das Einstiegsmodell erlaubt eine Reichweite von 330 Kilometern.
Nach Ansicht von Experten wie Dudenhöffer ist es durchaus nicht zu spät, um den Anschluss zu behalten. In der Wirtschaftsgeschichte sind nicht nur die Pioniere erfolgreich. Google war nicht die erste Internetsuchmaschine, Toyota nicht der Erfinder des Autos und Osram nicht der erste Anbieter von Glühlampen – aber sie waren in entscheidenden Punkten besser als die Vorreiter und konnten sich daher im Markt durchsetzen. Der Markt für E-Mobilität steckt trotz allen Geredes noch in den Anfängen.
Doch ob es gelingt, den Rückstand aufzuholen, hängt laut Diess davon ab, ob Deutschland selbst ein Referenzmarkt für die neue Technik wird. Diess verlangte deshalb zum Produktionsstart des ID.3 eine höhere CO2-Besteuerung, als die Bundesregierung sie vorsieht. Die Forderung eines Autobosses nach strikten Umweltgesetzen klingt wie verkehrte Welt, ist aber betriebswirtschaftlich logisch. VW investiert in den kommenden Jahren 30 Milliarden Euro in die Elektromobilität. Damit sich das lohnt, müssen die Kunden auch zugreifen. Diess gab sich deshalb auch sonst völlig gewandelt. Er rechnete vor, dass allein die von VW hergestellten Autos für ein ganzes Prozent des weltweit ausgestoßenen Kohlendioxids verantwortlich sind. Er klang wie ein Tabakboss, der in seiner Rede ausgiebig von Lungenkrebs spricht.
Für VW ist der ID.3 der Einstieg in den Ausstieg aus der Ära des Verbrennungsmotors. Das Unternehmen hat daher nicht einfach ein Auto entwickelt, sondern einen Technikbaukasten, mit dem sich alle Modelle elektrifizieren lassen. Das Neue ist nur die erste Anwendung des „Modularen E-Antriebs-Baukasten“(MEB), andere sollen schnell folgen. „Mit der MEB-Plattform gelingt es – so wie Tesla –, Elektroautos ganz spezifisch zu bauen und nicht als Kompromiss“, sagt Dudenhöffer. VW gehe „die Neuausrichtung der Branche sehr beherzt an“.
Diess verteidigte seinen strengen Fokus auf Elektromobilität in Abgrenzung zu Wasserstoff und künstlichem Benzin. Die Welt brauche jetzt sofort umweltfreundliche Mobilität, und beide Alternativen seien noch nicht so weit. Sie sind zudem wegen ihres geringen Wirkungsgrades auf einen Überfluss an Ökostrom angewiesen, den es vorerst nicht gebe. „Ohne Elektroauto können wir den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen“, sagte Diess.
Wie schnell sich das Elektroauto durchsetzt, hängt nun auch davon ab, wie leicht es sich laden lässt. Hier hapert es noch. Das deutsche Verkehrsministerium hält eine Million Ladesäulen für nötig. „Die Politik ist bisher wenig glaubwürdig“, betont Verkehrsexperte Dudenhöffer. Andere Länder investieren knackiger. China hat zwar im Sommer seine direkte Subvention für den Kaufpreis auslaufen lassen – doch dahinter steckt die Logik, dass das Elektroauto ab sofort die Normalität sein soll, und die Regierung kann schlecht den ganzen Fahrzeugmarkt subventionieren. Dafür ist das fernöstliche Land der Ladesäulenweltmeister. Eine Million steht bereits in den Städten, die nationale Stromgesellschaft hat zudem für eine ununterbrochene Kette von Lademöglichkeiten entlang der Autobahnen gesorgt. Bis Ende des Jahres 2020 sollen erstaunliche 4,8 Millionen Ladepunkte bereitstehen.
Der größte deutsche Autokonzern schließt ins Elektrozeitalter auf.