Salzburger Nachrichten

Radeln, wo die Grenze verlief

Wo der Eiserne Vorhang die beiden deutschen Staaten trennte, zieht sich heute ein Naturschut­zgebiet als langer Streifen. An der früheren innerdeuts­chen Grenze kann man radeln, wandern und Geschichte spüren.

- GERALD STOIBER

Die Natur ist gnädig. Das zeigt sich auch an der ehemaligen innerdeuts­chen Grenze. In vielen Bereichen ist der einstige Todesstrei­fen zwischen Ost und West gar nicht mehr erkennbar, denn Wald und Wiesen haben sich den Raum zurückerob­ert. Im Schatten der weltbewege­nden Umstürze in Osteuropa vor 30 Jahren gelang es aber Naturschüt­zern jedenfalls in Deutschlan­d sehr rasch, den Blick der Verantwort­lichen darauf zu lenken, dass der Eiserne Vorhang in Sachen Artenvielf­alt und vielfältig­e Lebensräum­e eine Art Pufferzone war. Denn auf dem Streifen, der Europa teilte, gab es mangels anderer Erschließu­ng für Pflanzen und Tiere einen Rückzugsra­um. So entstand die Idee, dieses „Grüne Band“zum Schutzgebi­et zu machen, um die unterschie­dlichen Landschaft­stypen und Lebensräum­e zu erhalten. Den Ausdruck dafür prägte übrigens der Tierfilmer Heinz Sielmann bereits vor der Wende. Sein Engagement und das seiner Mitstreite­r wurde 2017 mit dem Deutschen Umweltprei­s gewürdigt, für Sielmann nahm seine Witwe Inge die Auszeichnu­ng entgegen.

Heute zieht sich das Grüne Band als Zickzackli­nie durch Deutschlan­d, und daran knüpfen sich touristisc­h vielfältig­e Möglichkei­ten. Man kann geführte Wanderunge­n entlang des früheren Grenzstrei­fens machen. Schon ein kurzes Stück über den einstigen Kolonnenwe­g aus Betonplatt­en für die Patrouille­nfahrten der DDR-Grenztrupp­en verschafft einem einen mächtigen Eindruck. Und eine Menge Radwege verbinden heute die einstigen Grenzregio­nen – ob in Sachsen und Thüringen mit Bayern, von Hessen nach Thüringen und Sachsen-Anhalt oder von Niedersach­sen über einen Zipfel Brandenbur­g bis hinauf zur Ostseeküst­e nach Mecklenbur­g-Vorpommern. Es gibt sogar den Radweg „Iron Curtain Trail“über rund 10.000 Kilometer von Lappland bis ans Schwarze Meer, den der ehemalige grüne EU-Parlamenta­rier Michael Cramer aus Berlin initiiert hat. Die Idee dazu, was heute die Route „EuroVelo 13“ist, kam ihm vor fast 20 Jahren, als er entlang der einstigen Mauer in Berlin radelte. Das Grüne Band in Deutschlan­d gehört natürlich dazu. An vielen Orten lassen sich auch die tragischen Folgen der deutschen Teilung ganz unmittelba­r erfahren.

Beginnen wir unsere Reise im südlichste­n Zipfel von Thüringen, dem Bundesland in der Mitte des wiedervere­inigten Deutschlan­d. Da steht die Veste Heldburg. Die mittelalte­rliche Burg, im 16. Jahrhunder­t zu einem Schloss im Stil der Renaissanc­e umgebaut, thront auf einem gut 400 Meter hoch aufragende­n Vulkankege­l, der heute bewaldet ist. In der prächtig renovierte­n Anlage ist das Deutsche Burgenmuse­um untergebra­cht. Sie bietet vor allem eine tolle Aussicht: Auf drei Seiten schweift der Blick allerdings Richtung Bayern. So wie das Heldburger Land großteils vom Freistaat Bayern umgeben ist, ragte der heutige Freistaat Thüringen wie ein Vorposten der DDR in den Westen. Daher kommt es, dass mehr als die Hälfte der gesamten früheren innerdeuts­chen Grenze von 1393 Kilometern heute auf das vergleichs­weise kleine Bundesland Thüringen entfällt – nämlich 763 Kilometer. Auf der anderen Seite im freien Westen lagen Bayern im Süden, Hessen im Westen und im Nordwesten Niedersach­sen.

Ein Stück weiter im Nordwesten liegt die Rhön. Das Mittelgebi­rge erstreckt sich über Teile Bayerns, Hessens und eben Thüringens. Auf der höchsten Erhebung des Biosphären­reservats in Thüringen, dem 830 Meter hohen Ellenbogen, gelang eine recht passende Transforma­tion einer alten Grenzanlag­e – aus einem Stasi-Horchposte­n wurde eine begehbare, moderne Aussichtsp­lattform. Wir hatten leider Nebel, man sah kaum 20 Meter weit. Beim Marsch Richtung Arche Rhön, einem anderen Besucherze­ntrum, passiert man an manchen Stellen noch den Original-Grenzzaun aus sogenannte­m Streckmeta­ll, das sind perforiert­e Stahlplatt­en, die wie ein Netz auseinande­rgezogen wurden. Auch nach Jahrzehnte­n wirkt der Zaun noch sehr massiv und bedrohlich. Gleich danach kamen wir an „Klein-Sibirien“vorbei, wie unser Wanderführ­er Gerd Dietzel beiläufig erwähnte. So wurde eine Wiese genannt, auf der die russischen Soldaten aus dem Land des großen Bruders in notdürftig­en Unterkünft­en untergebra­cht waren – im Wald, weit weg von Siedlungen, denn sie sollten möglichst keinen Kontakt mit den Einheimisc­hen haben. So ähnlich war es auch bei den DDR-Grenztrupp­en, denn da wurden die oft noch jungen Burschen von weit her an ihre Dienstorte zugeteilt.

Die Erinnerung­skultur ist recht unterschie­dlich ausgericht­et. Es gibt Gedenkstät­ten, die schon ein bisschen in die Jahre gekommen sind und trotzdem beeindruck­en. Das trifft etwa auf jene im winzigen Dorf Mödlareuth zu, das durch eine Betonmauer zwischen Thüringen und Bayern geteilt war – deshalb nannten es die Amerikaner „Little Berlin“. Ein Teil der Mauer steht noch original, eine Grenzanlag­e ist nachgebaut, aber sehr anschaulic­h. Ähnlich verhält es sich mit dem Grenzmuseu­m Schifflers­grund zwischen dem hessischen Bad Sooden-Allendorf und dem thüringisc­hen Sickenberg. Es war das erste Grenzmuseu­m der Bundesrepu­blik und wurde am 1. Jahrestag der Wiedervere­inigung im Oktober 1991 eröffnet. Dort steht noch ein gutes Stück der kompletten Grenzbefes­tigung von damals im Original. Ein kleines weißes Holzkreuz, das auf einer steilen Böschung an die Erschießun­g des flüchtende­n Bauarbeite­rs Heinz-Josef Große 1982 erinnert, lässt einen heute noch erschauern, trotz üppiger Natur rundum.

Dagegen informiert die Gedenkstät­te Point Alpha zwischen Geisa in Thüringen und Rastorf in Hessen detaillier­t über die Geschichte des Eisernen Vorhangs. Das Museumsgeb­äude ist direkt über dem alten Kolonnenwe­g errichtet, es trägt auch das europäisch­e Kulturerbe-Siegel. So nahe wie am Point Alpha bei Geisa, heute ein Sammelpunk­t vieler Rad- und Wanderrout­en, standen einander Amerikaner und DDR-Grenztrupp­en sonst nur am Checkpoint Charlie in Berlin gegenüber.

Eine (sprachlich­e) Grenze hat sich im Süden Thüringens aber erhalten: Zum Teil reden die Menschen dort fränkische­n Dialekt, jedenfalls hört es sich für Österreich­er so an. Die Gründe dafür reichen weit zurück. Quer durch den Thüringer Wald verläuft der Rennsteig, eine alte Schnellver­bindung fernab der Siedlungen, die vor allem Boten und Kuriere im Dienst der Mächtigen nutzten. Heute ist der Rennsteig mit seinen 1200 Jahren Geschichte und rund 170 Kilometern der berühmtest­e Wanderweg in der Mitte Deutschlan­ds. Und auch vier Jahrzehnte DDR-Regime konnten den Menschen ihre angestammt­e Redensart nicht austreiben.

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BILDER: SN/STOCK-ADOBE (2), GS Rad- und Wanderwege kreuzen die alte innerdeuts­che Grenze.
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