Radtour entlang der Berliner Mauer
Radtour entlang der Berliner Mauer. Viel gibt es zu sehen, nur wo die Mauer stand, bleibt oft ein Rätsel.
Und wieder eine Stele, diesmal in Rostfarben. „Chris Gueffroy wollte nicht zum Militärdienst“ist über den damals 20 Jahre alten Deutschen zu lesen. Gueffroy hörte, dass der Schießbefehl an der Mauer ausgesetzt wurde, und so versuchte er die Flucht über die Mauer am Britzer Verbindungskanal. Zwei Meter vor Erreichen des Ziels wurden er und sein Freund von den Grenzsoldaten entdeckt. Sie schossen sofort. Von 22 Schüssen traf einer direkt ins Herz. Das war im Februar 1989. Für die Schützen gab es kurz danach ein Buffet, sie erhielten „Leistungsabzeichen“, Sonderurlaub und wurden zum Schweigen verpflichtet. Die Blumen, die seine Familie aufs Grab legte, wurden von der Stasi immer wieder entfernt.
Dies ist nur eine der Geschichten, die die zahlreichen Stelen erzählen entlang des Mauerwegs. Flüchtlinge, aber auch Grenzsoldaten kamen hier zu Tode und sogar nach dem Fall der Mauer sorgte das monströse Bauwerk noch für Tote: So wurde bei Lichtenrade ein Bub von einem herabfallenden Mauerstück erschlagen, als er als „Mauerspecht“Teile von der Mauer herauspicken wollte.
Klassischerweise beginnt die Mauertour am Brandenburger Tor. Von hier sind es zirka 160 Kilometer rund um das alte Westberlin, bis der Ausgangspunkt wieder erreicht ist. In drei Tagesetappen lässt sich der Weg gut bewältigen. Mit Pausen, um berühmte Bauwerke oder Parks zu bestaunen. Ausgeschildert ist die Route recht gut, wobei das Mauerweg-Logo immer in 3,6 Metern Höhe angebracht ist, exakt der Höhe der ehemaligen Mauer. Nach dem Selfie am Brandenburger Tor geht es in Richtung Potsdamer Platz, 1990 noch eine wüste, leere Fläche. Der Mauerverlauf lässt sich gut an der doppelreihigen Kopfsteinpflastermarkierung erkennen. Manchmal ragt diese merkwürdig nah an Häuser heran – wobei zu DDR-Zeiten Fenster und Türen zugemauert waren, um Fluchten zu verhindern. An einer kleinen Nebenstraße steht der älteste noch original erhaltene Wachturm – einer von fünf von einst 300!
Wenig später kommt das goldfarbene Hochhaus des Axel-Springer-Verlags ins Blickfeld und man staunt heute noch, wie nah Springer sein Verlagshaus an die Mauer bauen ließ, um die feindlichen Genossen im Osten zu ärgern. Vorbei geht es am Checkpoint Charlie, heute eher ein Touristen-Disneyland mit Fast-Food-Buden, SchauspielerGrenzposten und Souvenirshops. Von der einst tristen Atmosphäre dieses Ortes ist nichts mehr übrig. Kurz darauf, am Kreuzberger Bethaniendamm, kommt man an einem Mauer-Kuriosum vorbei: der Hütte des Türken Osman Kalin. Sein Baumhaus an der Mauer wird auch scherzhaft „Gecekondu“von Berlin genannt. Die zweistöckige Bude, aus Sperrmüll errichtet, baute Kalin auf einer Verkehrsinsel, die weder zu West- noch zu Ostberlin gehörte. Die Behörden duldeten das Bauwerk, und Kalin kam zu Berühmtheit in sämtlichen Reiseführern.
Dann die East-Side-Gallery, die von Touristen mit ihren Handys in Beschlag genommen ist. Sie stellt eines der wenigen Reste der Mauer dar, die noch erhalten ist. Auch hier macht die derzeitige Bauwut Berlins nicht halt, eintönige Wohnblocks werden direkt an die Mauer grenzend errichtet. Über die Oberbaumbrücke – Fotostopp! – geht es wieder zurück nach Kreuzberg. Besser hier Proviant kaufen, denn ab hier weicht der Weg vom tatsächlichen Verlauf der Mauer ab, die Grenze führte an dieser Stelle mitten durch die Spree – Mauerreste im Wasser künden noch davon. Hinter Treptow zieht sich der Weg öde und schnurgerade entlang, eingezwängt zwischen Autobahn und Teltowkanal.
Schönefeld an der Stadtgrenze zeigt, wie brachial einst der Übergang zwischen der Stadt Berlin und dem Umland war. Auf der rechten Seite dichte Besiedlung mit Einfamilienhäusern mit Garten, auf der linken Seite weite Felder, so weit das Auge reicht. Stadtrandsiedlungen und Gewerbegebiete, wie am Rande jeder anderen Großstadt üblich, gibt es bis heute nicht in Berlin. Im Süden von Lichterfelde geht es an einer Geisterstadt für ehemals US-Soldaten vorbei, hübscher wird es ein Stückchen weiter an der TV-Asahi-Kirschblütenallee. Insgesamt 9000 Kirschbäume wurden von Japanern gespendet, aus Freude über die Vereinigung Deutschlands – eine wahre Pracht im April.
In Lichtenrade wird es – in Ermangelung einer Untertunnelung der S-Bahn-Strecke – recht holprig, das Gebiet um den S-Bahnhof Lichtenrade zeigt sich mit Imbissbuden, leer stehenden Häusern und altmodischen Geschäften ganz im Flair der Nachwendejahre. Weiter nach Zehlendorf, auf einem idyllischen Waldweg. Hier soll das Mauermonster gestanden haben, samt 70 Meter breitem Todesstreifen?
In Babelsberg beginnt dann der landschaftlich schönste Teil der Tour. Gleich hinter der Glienicker Brücke lockt ein stilvoller Imbiss im historischen Ambiente einer alten Tankstelle – „Garage du Pont“heißt dieses kleine Restaurant. Am Seeufer des Griebnitzsees liegen spektakuläre Villen, auch Schloss Cecilienhof, direkt am Weg und frisch restauriert, dann waldiges Gebiet um Lehnitzsee, Jungfernsee und Krampnitzsee bis nach Staaken. Vom ehemaligen Kontrollpunkt Heerstraße zeugt nur die inzwischen geschlossene Kneipe „Grenz-Eck“.
An der „Bürgerablage“vereinigt sich der Mauerweg für kurze Zeit mit dem Havelradweg und dem Fern-Radweg Berlin–Kopenhagen. In der riesigen Fabrikanlage Hennigsdorf residierte zu DDR-Zeiten das Kombinat VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hans Beimler; heute sitzt hier Bombardier. Bei Frohnau gerät ein weiterer ehemaliger Wachturm ins Blickfeld – der von einem Lehrerpaar leider zu einem weiß verputzten Turm mit dunkelgrünen Fensterläden verkitscht wurde.
Bei Lübars, einem urwüchsigen Dorf mit Bauernhof auf Westberliner Gebiet, radelt man auf gut angelegten Wegen durch ein feuchtes Fließtal, Pferde stehen hier auf Weiden. Plötzlich führt der Mauerweg dann mitten durch Wohngebiete, und die Frage bleibt: Wo war hier die Mauer? Wer ein Souvenir kaufen möchte, sollte kurz nach dem Mauerpark an der Oderberger Straße den Laden „VEB Orange“besuchen, das einzige Geschäft in Berlin, das allen möglichen Krimskrams, von Schallplatten über alte Blusen bis zu Eierbechern, aus DDR-Zeiten verkauft. Ein spärlicher Mauerrest, umlagert von Touristen, wartet dann an der Bernauer Straße. Und ein Stück weiter noch einer, im „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“, das kurz nach dem Mauerfall im Niemandsland vom Künstler Ben Wagin angelegt wurde. Heute ist dieses Kleinod eingezäunt und leider nicht mehr öffentlich zugänglich. Entlang der spröden, grauen Regierungsbauten geht es dann zum Endpunkt, dem Brandenburger Tor.