Die Wende
Wie Europa wieder zusammenwuchs. Vor 30 Jahren gelang eine der erfolgreichsten und friedlichsten Revolutionen in der Geschichte unseres Kontinents. 1989 wollten alle Europäer sein. Heute regiert wieder der Nationalismus. Was ist da passiert?
Die Berliner Mauer fiel freilich am 9. November 1989 nicht einfach von selbst. Sie musste schon von der Gesellschaft umgeworfen werden. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht von einer „unvorstellbaren Revolution“, weil sie im Fall der Ostdeutschen wider alle Erwartungen geschah. Seit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 war es in der DDR ja zu keinerlei Massenprotesten mehr gekommen. Das Regime in Ostberlin konnte kritische Stimmen im Zaum halten oder in den Westen abschieben. Während in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność in den 1980er-Jahren Millionen Menschen gegen das kommunistische Regime mobilisierte, zeigte sich in der DDR nur ein kleiner Teil der Bürger zu aktiver Opposition entschlossen. Sogar als die Gesellschaft im Herbst 1989 in Bewegung geraten war, wagte sich nur eine Minderheit auf die Straßen und in die Kirchen, wie Kowalczuk bemerkt. „Die Fernsehbilder aus Leipzig, Dresden und Ostberlin lügen nicht, aber sie suggerieren noch heute, alle seien ,dabei‘ und ,dafür‘ gewesen. So weit war es nicht, so weit kam es nie. Revolutionen sind niemals Angelegenheiten einer Mehrheit.“
Aber ohne den Protest mutiger Menschen hätte es auch in der DDR kein Zurückweichen des Regimes gegeben. Sie überwanden die allenthalben herrschende Angst vor einer „chinesischen Lösung“– das heißt: dem bedrohlichen Szenario, dass das Regime die friedlichen Proteste der Bürger wie die Herrschenden in Peking im Juni 1989 gewaltsam niederschlagen würde. Die von den Leipziger Montagsdemonstrationen ausgehende Welle des Unmuts erfasste schnell das ganze Land. Eine „spontane Revolution“kam mit dieser Protestbewegung ins Rollen. Die zunehmende Zahl von Flüchtlingen setzte das Regime unter Druck, ermutigte aber auch die Dagebliebenen in der DDR. Abwanderung und Protest traten gleichzeitig auf, schienen sich sogar wechselseitig zu verstärken. Das stellt ein Spezifikum der ostdeutschen Revolution dar.
Mag sein, dass das System der DDR damals kurz vor dem Zusammenbruch stand. Aber es ging nicht nur um die Implosion eines erschöpften Landes. Der Begriff Revolution würdigt richtigerweise die Leistung jener, die auf die Straße gegangen sind und politische Veränderungen eingefordert haben. Der Aufstand in der DDR war ein Teil der „Kettenrevolution“im „Wunderjahr“1989, die die kommunistischen Herrscher in Ostmitteleuropa der Reihe nach stürzte. Die Rebellion der Ostdeutschen vor 30 Jahren ist das rare Beispiel einer gelungenen Revolution in der deutschen Geschichte; sie zählt, wie die gescheiterte Bewegung von 1848 oder die ebenfalls gescheiterte Weimarer Republik, zu den rühmenswerten freiheitlichen Traditionen der Deutschen.
Als eine „nachholende Revolution“bezeichnet Jürgen Habermas den Aufstand, der vor 30 Jahren die kommunistischen Regime im Osten Europas hinweggefegt hat. Analytisch hat der deutsche Soziologe die Plausibilität auf seiner Seite. Das Motto der Revolution von 1989 war die „Rückkehr nach Europa“. Ihre Wortführer wollten das erreichen, was in Westeuropa schon seit Jahrzehnten Praxis war. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, soziale Marktwirtschaft.
Von konträren, ja utopischen Idealen wie noch Jahrzehnte zuvor – wie einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“oder einem „Dritten Weg“(zwischen Kommunismus und Kapitalismus) – war jetzt nicht mehr die Rede. Die Tschechen etwa wiesen ironisch darauf hin, dass 1989 die Umkehrvision von 1968 sei. Man wollte möglichst schnell westlich werden.
Doch im Diktum von Habermas klingt ein Ton der Herablassung mit. Der Analytiker übersieht, dass die „samtene Revolution“von 1989 mit ihrem Eintreten für bewährte politische Ideen ein ganz neues Modell einer friedlichen, ausgehandelten, sich selbst begrenzenden Revolution etabliert hat. Sie stand, mit der Ausnahme Rumäniens, im Gegensatz zu den blutigen Wirren der Französischen Revolution genau 200 Jahre zuvor. Zum einen verschrieben sich die Protagonisten der politischen Wende von 1989 dem Prinzip Gewaltlosigkeit. Zum anderen blieb 1989 konterrevolutionäre Gewalt aus.
Da „1989“den neuen Typus einer friedlichen Revolution vor Augen führte, hatte sie dauerhaften Einfluss auf spätere Episoden zivilen Widerstands – vom weitgehend gewaltlosen Sturz des serbischen Despoten Slobodan Milošević im Jahr 2000 über die „orangene Revolution“in der Ukraine 2004/2005, die gewaltsam unterdrückte „grüne Bewegung“im Iran 2009 und die niedergeschlagenen Gezi-Park-Proteste in Istanbul 2013 bis zu den Massendemonstrationen in Hongkong in den vergangenen Monaten. Die Politik von Machthabern wie Xi Jinping, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan lässt sich folglich auch verstehen als ein Kurs der Konterrevolution gegen eine näher kommende Welle einer vom Westen ausgehenden liberalen Revolution, wie der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash bemerkt.
Zum Kennzeichen und innenpolitischen Katalysator des Umbruchs von 1989 wurden die Massen, die friedlich und in sozialer Einheit gegen den kommunistischen Parteistaat protestierten. Ins Rollen kam die Revolution von 1989 dann, weil die kommunistische Herrschaft trotz aller Repression den Freiheitswillen der Menschen niemals gänzlich hatte tilgen können. „1989“hatte in Ostmitteleuropa eine Vorgeschichte politischer Rebellionen – vom Aufstand in der DDR 1953 und Ungarns Revolution 1956 bis zum „Prager Frühling“1968 und den Protesten in Polen 1970 und 1980/1981.
Was in Polen im Jahrzehnt vor der Wende von 1989 auf die politische Bühne trat, unterschied sich fundamental von allem, was sich zuvor in Ostmitteleuropa gezeigt hatte. Als die Solidarność gegründet wurde, wussten viele Experten dieses politische Phänomen nicht recht einzuordnen, weil eine unabhängige Gewerkschaft innerhalb eines kommunistischen Systems nach allen Lehrbüchern einfach nicht vorgesehen war. Solidarność trug den Keim künftiger Entwicklungen in sich. Sie wurde zum „Pionier einer neuen Politik in Ostmitteleuropa (und nicht nur dort), einer Politik der gesellschaftlichen Selbstorganisation – mit dem Ziel, die Transition weg vom Kommunismus in Gang zu bringen“. Das notiert Garton Ash in seiner Studie „Ein Jahrhundert wird abgewählt“(Hanser Verlag, München). Es ist bis heute das beste, noch immer beeindruckende Buch über die Ereignisse von 1989, in dem der Autor persönliche Anschauung und politische Analyse verbindet. Natürlich gilt seine ganze Empathie darin den Akteuren des Aufstands gegen die kommunistische Obrigkeit im Osten unseres Kontinents.
Beim Umbruch in Ungarn und Polen verknüpften sich Reform von oben (durch Vertreter der kommunistischen Elite) und revolutionärer Druck von unten (durch die Opposition). Hier geschahen „Refolutionen“– ein Begriff, den Garton Ash aus den Worten Reform und Revolution mixt. Es folgten der Umsturz in der DDR und in der Tschechoslowakei, wo Bürgerbewegungen zu Massenprotesten aufgerufen hatten. Am Schluss fielen auch die kommunistischen Regime in Bulgarien und in Rumänien.
„1989“war eine Freiheitsrevolution – und auch eine „Revolution der Intellektuellen“. Natürlich zwangen in erster Linie die streikenden Arbeiter in Polen oder die demonstrierenden Massen in der DDR und der Tschechoslowakei die alten Machthaber in die Knie. Aber Intellektuelle wie Václav Havel in Prag oder Adam Michnik in Warschau figurierten als die Wortführer der Volkserhebungen gegen die kommunistischen Regime.
Was sie alle vereinte: Sie wollten nicht mehr geknechtet werden von einem unterdrückerischen Regime. Sie wollten auch nicht mehr die eigene Person ständig aufspalten in einen öffentlichen Teil, der streng nach den Regeln des Regimes zu tanzen hatte, und in einen privaten, der vor dem Zugriff des Systems in „Nischen“flüchtete. Sie wollten Bürger sein, Individuen mit Würde und Verantwortung, frei vereint in einer „Zivilgesellschaft“– einem weiteren politischen Signalwort der Wende von 1989.