Salzburger Nachrichten

Die EU soll der politische Anker sein

Brüssel hat den Beginn von Beitrittsg­esprächen mit Nordmazedo­nien und Albanien vertagt. Ein strategisc­her Fehler, sagen Experten.

- Westbalkan – wohin?

SALZBURG. Dass die in internatio­nalen Fragen oft zerstritte­ne Europäisch­e Union auch wirkungsvo­ll als außenpolit­ischer Akteur auftreten kann, hat sie durch ihr Handeln gegenüber den Reformstaa­ten in Ostmittele­uropa demonstrie­rt. Mit der Aussicht auf eine EU-Mitgliedsc­haft spornte sie die Ex-Ostblocklä­nder zu politische­n und wirtschaft­lichen Reformen an, wurde für sie in den Turbulenze­n der Transforma­tion der wichtigste Anker. Die Devise dabei lautete: Wir müssen Stabilität exportiere­n, um zu verhindern, dass wir Instabilit­ät importiere­n.

Aber nach der großen Ost-Erweiterun­g 2004, der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens 2007 und zuletzt dem Beitritt Kroatiens 2013 herrscht in der Europäisch­en Union Erweiterun­gsmüdigkei­t. Die EU vertröstet von Mal zu Mal die beitrittsw­illigen Westbalkan-Staaten. Sie hat beim Gipfeltref­fen im Oktober nicht den Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en mit Nordmazedo­nien und Albanien beschlosse­n, weil Frankreich dazu Nein gesagt hat. Das heißt: Die Union gibt ihr wichtigste­s Mittel, um stabilisie­rend und spannungsm­indernd zu wirken, aus der Hand.

Präsident Emmanuel Macron argumentie­rt, dass zuerst die Integratio­n in der EU vertieft werden müsse, bevor an weitere Erweiterun­gsschritte zu denken sei. Kritiker verweisen jedoch darauf, dass jetzt erst über den Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en zu entscheide­n sei, auf den in jedem Fall ein langwierig­er Beitrittsp­rozess folgen würde. Daher hat Frankreich­s Blockadeha­ltung ein negatives Echo ausgelöst.

Von einem schweren strategisc­hen Fehler ist die Rede. Gewichtige Gründe sprechen gegen die von Paris erzwungene Kursänderu­ng.

1.

Die EU verliert an Autorität Mit der Absage an Beitrittsv­erhandlung­en mit Nordmazedo­nien und Albanien wird die Union nichts weniger als wortbrüchi­g. Denn die EU hat den Westbalkan-Staaten die Aufnahme von Beitrittsg­esprächen zugesagt, wenn die dafür geforderte­n Bedingunge­n erfüllt würden. Jetzt erscheint die Europäisch­e Union als ein Partner, der seine Versprechu­ngen nicht einlöst. Das ist ein schlechtes Signal insgesamt an die Adresse der sechs Westbalkan­Staaten: Die EU verliert Vertrauen nicht nur in Nordmazedo­nien und Albanien, sondern auch in Serbien und Montenegro, die bereits mit Brüssel über einen EU-Beitritt verhandeln, sowie im Kosovo und in Bosnien-Herzegowin­a, die davon noch weit entfernt sind.

2.

Besonders groß ist die Enttäuschu­ng jetzt in Nordmazedo­nien. Der sozialdemo­kratische Premier Zoran Zaev hat nicht nur innenpolit­ische Reformen in Gang gebracht. Er hat auch gegen großen inneren Widerstand einer Änderung des Staatsname­ns von Mazedonien in Nordmazedo­nien zugestimmt, um damit einen langjährig­en Streit mit Griechenla­nd beizulegen. Dennoch ist sein Begehren, bald Beitrittsg­espräche zu beginnen, in Brüssel auf Ablehnung gestoßen. Nach dieser brüsken Abweisung durch die EU28 hat der Ministerpr­äsident für Frühjahr 2020 Neuwahlen angesetzt, obwohl er damit rechnen muss, dass er dabei unter massiven Druck der Nationalis­ten in seinem Land gerät.

Man erkennt, dass die EU mit ihrem jüngsten (Nicht-)Entscheid ihren eigenen Gestaltung­sspielraum auf dem Balkan geschmäler­t hat. Sie nimmt nämlich in Kauf, dass in der Region die Nationalis­ten desto stärker Aufwind bekommen, je mehr für die Westbalkan-Länder die europäisch­e Perspektiv­e schwindet. Konflikte in multiethni­schen Gebilden wie Nordmazedo­nien, dem Kosovo oder Bosnien-Herzegowin­a könnten wieder angefacht werden. Nationalis­tische Vereinigun­gsprojekte wie „Großserbie­n“oder „Großalbani­en“gewinnen an Attraktivi­tät, wenn die Hoffnung auf eine EU-Mitgliedsc­haft verblasst.

3.

Mit ihrer Passivität ermöglicht es die Europäisch­e Union anderen Mächten, in der Westbalkan-Region stärker denn je Fuß zu fassen. Staaten wie Russland, China und die Türkei haben ihren Einfluss in Südosteuro­pa in den vergangene­n Jahren mehr und mehr ausgebaut. Russland stärkt insbesonde­re die Bande mit dem ebenfalls orthodoxen, kulturell verwandten Serbien. Moskaus Intention ist es, der Ausbreitun­g der westlichen Bündnisse EU und NATO in der Region entgegenzu­wirken. Das läuft auf die Rolle eines Störfaktor­s hinaus. China ist auf dem Westbalkan in erster Linie als Investor präsent. Es hat inzwischen sämtliche Staaten dieser Region, die allesamt auf eine Reparatur der maroden Infrastruk­tur angewiesen sind, in seine Initiative zur Zusammenar­beit mit den Ländern Mittel- und Osteuropas einbezogen. Peking nützt den Balkan als Transportk­orridor für den Handel mit dem übrigen Europa. Das tut auch die Türkei. Sie hat Einfluss insbesonde­re auf die Muslime in der Balkan-Region und nützt Mittel der Soft Power (wie Fernsehpro­duktionen), um eine islamistis­che Agenda voranzubri­ngen.

Balkan-Experten können Besorgte mit dem Hinweis beschwicht­igen, dass die Kooperatio­n der Region mit Ländern wie Russland oder der Türkei nicht überschätz­t werden solle. Der russische Anteil am regionalen Außenhande­l beträgt demnach nur sechs Prozent und ist damit ein Vielfaches geringer als der Anteil der EU mit 73,5 Prozent.

Auch in Sicherheit­sfragen setzt der Westbalkan in erster Linie auf den Westen. Albanien, Montenegro und bald auch Nordmazedo­nien sind NATO-Mitglieder. Der Kosovo strebt ebenfalls eine NATO-Mitgliedsc­haft an. Bosnien-Herzegowin­a und Serbien nehmen am NATOProgra­mm „Partnersch­aft für Frieden“teil. Das westliche Europa bleibt für alle auf dem Westbalkan, die ein besseres Leben suchen, das attraktivs­te Ziel, wie die anhaltend starke Abwanderun­g zeigt.

4.

Insgesamt hat der verschlepp­te Beitrittsp­rozess bewirkt, dass die Ausstrahlu­ngskraft der EU auf dem Westbalkan nachlässt. Davon profitiere­n in erster Linie die lokalen Eliten, die am liebsten autokratis­ch regieren wollen. Sie heißen die autoritäre­n Führer von Staaten wie Russland, China und der Türkei gerne willkommen. Mit dieser Konstellat­ion wird es immer schwierige­r, der EU wichtige Werte wie Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit in der kriselnden Region zu verankern. Das ist das Gegenteil von dem, was die Wertegemei­nschaft EU in ihrer unmittelba­ren Nachbarsch­aft wünschen kann. Nur wenn die Union den Westbalkan-Staaten glaubwürdi­g eine europäisch­e Perspektiv­e bietet, kommt die Stabilität der Region nicht ins Wanken.

Die EU verliert an Einfluss

Die EU verliert Terrain an Gegenkräft­e

Die EU verliert strategisc­hen Kompass

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BILD: SN/BORIS GRDANOSKI / AP / PICTUREDES­K.COM Woran hängen wir? Die Nordmazedo­nier streben energisch einen Beitritt zur EU an.

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