Das Beste von Thiem kommt erst
Holt Dominic Thiem nach zwei beeindruckenden Siegen schon bei den ATP-Finals seinen bisher größten Titel? Als Spieler und Persönlichkeit sind ihm keine Grenzen gesetzt. Es bleibt nur mehr ein Fragezeichen: Sein Körper.
Dominic Thiem reift immer mehr zum Champion
War das das beste Match des Jahres? Diese Frage auf der ATP-Website werden viele Zeugen mit Ja beantworten. Die rund 17.000 Zuschauer in der Londoner O2-Arena waren begeistert, noch mehr wohl jene in Österreich vor den TVGeräten. Als Dominic Thiem um Mitternacht den Drei-Stunden-Thriller gegen Novak Djokovic für sich entschieden und das Halbfinale vorzeitig perfekt gemacht hatte, meinte auch Österreichs sonst eher zurückhaltender Tennisstar: „Ja, das war wahrscheinlich das beste Match, das ich je gespielt habe. Es war ein Klassiker und ein episches Match, das von Zeit zu Zeit bei diesen großen Turnieren passiert.“
Das zweite Gruppenspiel beim Finalturnier der acht Besten ihrer Zunft war an Klasse und Dramatik kaum zu überbieten. 6:7 (5), 6:3, 7:6 (5) gegen den nicht nur seiner Meinung nach aktuell besten Tennisspieler – es war dies ein Match, das die Entwicklung des 26-jährigen Niederösterreichers besser nicht beschreiben könnte. Denn noch vor einem Jahr, darf man behaupten, hätte er dieses Match nicht gewonnen. Diesmal hat er den 16-fachen GrandSlam-Sieger bezwungen. Mit Hochgeschwindigkeitstennis, wie es aktuell kein anderer spielen kann. Am Ende standen 50 Gewinnschläge, die Thiem von der Grundlinie mit Vor- wie Rückhand abfeuerte, zu Buche.
„Was er gezeigt hat, war phänomenal. Er hat auf jeden Ball draufgedonnert und das gesamte Match gespielt, als wäre es der letzte Punkt. Da kann ich nur meinen Hut ziehen“, verneigte sich Djokovic, der sich selbst in Bestform präsentierte. Die Dramaturgie mit dem mehrmals wechselnden Momentum und Millimeter-Entscheidungen
trugen ihr Übriges dazu bei. Und wie bereits gegen Roger Federer war Thiem bei den allerwichtigsten Punkten zur Stelle. Mit dem Mut, selbst die Entscheidung zu suchen. Und mit einem Selbstvertrauen, das mittlerweile sogar den Federers dieser Tenniswelt zeigt: „Wenn du mich bezwingen willst, musst auch du über dich hinauswachsen.“
Dazu kommt ein gewachsenes Spielverständnis. Thiems Aggressivität ist kein Drauflosballern mehr. Seit heuer brilliert er auch mit Variabilität beim Aufschlag, mit Slice und Netzangriffen. Kurz: Er zeigt nun endgültig alles, was einen Champion auszeichnet. Zu verdanken hat er es zum einen seinem langjährigen
Mentor Günter Bresnik, der ihm das technische Rüstzeug vermittelte. Das ist die unabdingbare Basis. Nach der Trennung vom „strengen Oberlehrer“(wie sich Bresnik selbst bezeichnet) zu Saisonbeginn wurde einerseits Platz für neue Köpfe und andererseits ist Thiem seither zur vollkommen eigenverantwortlichen Person gereift. Genau das spiegelt sich nun auf dem Platz wider. Vater Wolfgang und der chilenische Ex-Weltklassespieler Nicolás Massú, die das Trainer-Duo bilden, brachten ihn punkto Taktik und Mentalität noch einmal auf ein höheres Niveau. Es greift ein Rad ins andere.
Dieses Wissen, das Vertrauen in die eigene Stärke und erstmals zwei der „Big Three“in Folge besiegt zu haben machen ihn ab sofort zu einem noch gefährlicheren Anwärter auf den ersehnten Grand-Slam-Titel. Das Beste steht also noch bevor.
In London stehen die schwierigsten Matches erst an. Entscheidend wird nämlich sein, wie sich Thiem vom mentalen Kraftakt erholt. Fällt er nur um Nuancen ab, dann ist der Traum – so realistisch er nach den zwei großartigen Siegen scheint – vom bisher größten Titel seiner Karriere auch wieder schnell ausgeträumt.
Außerdem, und auch das spiegelt seine bisherige Laufbahn wider, wird sein Körper zunächst in London und dann in den kommenden Jahren darüber entscheiden, ob er – vielleicht sogar noch in der Ära von Djokovic, Federer und Nadal – konstant um die größten Titel und die Nummer eins mitspielt. Wenn Thiem bei vollen Kräften ist, gehört der Vorzeigeprofi zu den Fittesten. Ja, wenn ... Denn allein heuer hielten ihn zwei langwierige Viruserkrankungen von womöglich bereits größeren Erfolgen ab. Und auch dieser Tage kämpft er schon wieder mit seinem Immunsystem. „Ich bin verkühlt und hoffe, dass ich durchhalte“, sagt er mit heiserer Stimme. Das muss Thiem in den Griff bekommen.
ATP-Finals: Gruppe Borg: Thiem (AUT-5) – Djokovic (SRB-2) 6:7(5), 6:3, 7:6(5). Tab.: 1. Thiem* 2 Siege/4:1 Sätze, 2. Djokovic 1/3:2, 3. Federer (SUI-3) 1/2:2, 4. Berrettini (ITA-8) 0/0:4. Donnerstag: Thiem – Berrettini (15 Uhr), Djokovic – Federer** (21). * = im Halbfinale, ** = Duell um das Halbfinale. Gr. Agassi: Nadal (ESP-1) – Medwedew (RUS-4) 6:7(3), 6:3, 7:6(4); Nadal wehrte Matchball ab. Mittwochabend: Tsitsipas (GRE-6) – Zverev (GER-7).