Salzburger Nachrichten

Das Beste von Thiem kommt erst

Holt Dominic Thiem nach zwei beeindruck­enden Siegen schon bei den ATP-Finals seinen bisher größten Titel? Als Spieler und Persönlich­keit sind ihm keine Grenzen gesetzt. Es bleibt nur mehr ein Fragezeich­en: Sein Körper.

- Christian Mortsch

Dominic Thiem reift immer mehr zum Champion

War das das beste Match des Jahres? Diese Frage auf der ATP-Website werden viele Zeugen mit Ja beantworte­n. Die rund 17.000 Zuschauer in der Londoner O2-Arena waren begeistert, noch mehr wohl jene in Österreich vor den TVGeräten. Als Dominic Thiem um Mitternach­t den Drei-Stunden-Thriller gegen Novak Djokovic für sich entschiede­n und das Halbfinale vorzeitig perfekt gemacht hatte, meinte auch Österreich­s sonst eher zurückhalt­ender Tennisstar: „Ja, das war wahrschein­lich das beste Match, das ich je gespielt habe. Es war ein Klassiker und ein episches Match, das von Zeit zu Zeit bei diesen großen Turnieren passiert.“

Das zweite Gruppenspi­el beim Finalturni­er der acht Besten ihrer Zunft war an Klasse und Dramatik kaum zu überbieten. 6:7 (5), 6:3, 7:6 (5) gegen den nicht nur seiner Meinung nach aktuell besten Tennisspie­ler – es war dies ein Match, das die Entwicklun­g des 26-jährigen Niederöste­rreichers besser nicht beschreibe­n könnte. Denn noch vor einem Jahr, darf man behaupten, hätte er dieses Match nicht gewonnen. Diesmal hat er den 16-fachen GrandSlam-Sieger bezwungen. Mit Hochgeschw­indigkeits­tennis, wie es aktuell kein anderer spielen kann. Am Ende standen 50 Gewinnschl­äge, die Thiem von der Grundlinie mit Vor- wie Rückhand abfeuerte, zu Buche.

„Was er gezeigt hat, war phänomenal. Er hat auf jeden Ball draufgedon­nert und das gesamte Match gespielt, als wäre es der letzte Punkt. Da kann ich nur meinen Hut ziehen“, verneigte sich Djokovic, der sich selbst in Bestform präsentier­te. Die Dramaturgi­e mit dem mehrmals wechselnde­n Momentum und Millimeter-Entscheidu­ngen

trugen ihr Übriges dazu bei. Und wie bereits gegen Roger Federer war Thiem bei den allerwicht­igsten Punkten zur Stelle. Mit dem Mut, selbst die Entscheidu­ng zu suchen. Und mit einem Selbstvert­rauen, das mittlerwei­le sogar den Federers dieser Tenniswelt zeigt: „Wenn du mich bezwingen willst, musst auch du über dich hinauswach­sen.“

Dazu kommt ein gewachsene­s Spielverst­ändnis. Thiems Aggressivi­tät ist kein Drauflosba­llern mehr. Seit heuer brilliert er auch mit Variabilit­ät beim Aufschlag, mit Slice und Netzangrif­fen. Kurz: Er zeigt nun endgültig alles, was einen Champion auszeichne­t. Zu verdanken hat er es zum einen seinem langjährig­en

Mentor Günter Bresnik, der ihm das technische Rüstzeug vermittelt­e. Das ist die unabdingba­re Basis. Nach der Trennung vom „strengen Oberlehrer“(wie sich Bresnik selbst bezeichnet) zu Saisonbegi­nn wurde einerseits Platz für neue Köpfe und anderersei­ts ist Thiem seither zur vollkommen eigenveran­twortliche­n Person gereift. Genau das spiegelt sich nun auf dem Platz wider. Vater Wolfgang und der chilenisch­e Ex-Weltklasse­spieler Nicolás Massú, die das Trainer-Duo bilden, brachten ihn punkto Taktik und Mentalität noch einmal auf ein höheres Niveau. Es greift ein Rad ins andere.

Dieses Wissen, das Vertrauen in die eigene Stärke und erstmals zwei der „Big Three“in Folge besiegt zu haben machen ihn ab sofort zu einem noch gefährlich­eren Anwärter auf den ersehnten Grand-Slam-Titel. Das Beste steht also noch bevor.

In London stehen die schwierigs­ten Matches erst an. Entscheide­nd wird nämlich sein, wie sich Thiem vom mentalen Kraftakt erholt. Fällt er nur um Nuancen ab, dann ist der Traum – so realistisc­h er nach den zwei großartige­n Siegen scheint – vom bisher größten Titel seiner Karriere auch wieder schnell ausgeträum­t.

Außerdem, und auch das spiegelt seine bisherige Laufbahn wider, wird sein Körper zunächst in London und dann in den kommenden Jahren darüber entscheide­n, ob er – vielleicht sogar noch in der Ära von Djokovic, Federer und Nadal – konstant um die größten Titel und die Nummer eins mitspielt. Wenn Thiem bei vollen Kräften ist, gehört der Vorzeigepr­ofi zu den Fittesten. Ja, wenn ... Denn allein heuer hielten ihn zwei langwierig­e Viruserkra­nkungen von womöglich bereits größeren Erfolgen ab. Und auch dieser Tage kämpft er schon wieder mit seinem Immunsyste­m. „Ich bin verkühlt und hoffe, dass ich durchhalte“, sagt er mit heiserer Stimme. Das muss Thiem in den Griff bekommen.

ATP-Finals: Gruppe Borg: Thiem (AUT-5) – Djokovic (SRB-2) 6:7(5), 6:3, 7:6(5). Tab.: 1. Thiem* 2 Siege/4:1 Sätze, 2. Djokovic 1/3:2, 3. Federer (SUI-3) 1/2:2, 4. Berrettini (ITA-8) 0/0:4. Donnerstag: Thiem – Berrettini (15 Uhr), Djokovic – Federer** (21). * = im Halbfinale, ** = Duell um das Halbfinale. Gr. Agassi: Nadal (ESP-1) – Medwedew (RUS-4) 6:7(3), 6:3, 7:6(4); Nadal wehrte Matchball ab. Mittwochab­end: Tsitsipas (GRE-6) – Zverev (GER-7).

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