Die Grünen sind eine Regierungspartei in Lauerstellung
Zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl wird die Kanzlerkandidatenfrage für Deutschlands Grüne immer brisanter.
BERLIN. Auch wenn die Grünen bei den Landtagswahlen im Osten nicht dermaßen gut abgeschnitten haben wie im Jahr zuvor in Bayern und Hessen – so schwimmen sie immer noch auf einer Welle des Erfolgs. Gerade erst haben sie das Rathaus der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover erobert, das über 70 Jahre fest in der Hand der Sozialdemokraten war. In Brandenburg und Sachsen werden sie demnächst mitregieren. Bald sind sie an elf Landesregierungen beteiligt, was bedeutet, dass sie über den Bundesrat erheblichen Einfluss auf die Bundespolitik nehmen können.
In den landesweiten Umfragen kommen die Grünen aktuell auf 18 bis 22 Prozent. Zwar waren es im Sommer schon mal 27 Prozent, womit die Ökopartei sich gar vor die Union geschoben hatte. Längst haben die Grünen die SPD vom zweiten Platz verdrängt. So könnten die beiden Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck dem am Freitag beginnenden Parteitag in Bielefeld eigentlich ganz entspannt entgegensehen.
Doch der Erfolg hat eine Frage aufgeworfen, um die sich das Führungsduo bislang herumgedrückt hat: Brauchen die Grünen einen Kanzlerkandidaten beziehungsweise eine Kanzlerkandidatin? Angesichts der anhaltenden Schwäche der SPD sind sie derzeit die einzige ernsthafte Konkurrenz für die Union, die selbst schon unter die 30Prozent-Marke gefallen ist. Fahrt aufgenommen hat die K-Frage durch eine Äußerung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg. Der hatte Anfang des Monats in einem Interview Habeck als Kanzlerkandidaten empfohlen. Doch bereits am Tag danach relativierte er seine Aussage und erklärte, beide Parteichefs seien „kanzlerkandidatenfähig.“
Mit seiner ersten Wahl hat
Kretschmann den Geist der Zeit getroffen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey halten knapp 60 Prozent der Deutschen Habeck für einen geeigneten Kanzlerkandidaten. Baerbock kommt nur auf zehn Prozent.
83 Prozent der Grünen-Anhänger sind der Meinung, dass ihre Partei einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufstellen solle. Habeck und Baerbock halten sich in dieser Frage bedeckt. Sie wissen, dass es noch zu früh ist, dieses Thema zu erörtern. Zumindest offiziell dürfte die K-Frage beim Parteitag am Wochenende keine Rolle spielen. Die Zeiten öffentlich ausgetragener Flügelkämpfe und ständiger Reibereien zwischen den beiden Parteichefs gehören der Vergangenheit an. Baerbock und Habeck scheinen ein Herz und eine Seele zu sein. Die beiden Parteichefs leiten die Grünen im Team und können auf ihre Wiederwahl und glänzende Ergebnisse hoffen.
Bielefeld ist für die Grünen nicht irgendein Ort. Bereits vor 20 Jahren war die Stadt in Ostwestfalen Austragungsort des „Kriegsparteitags“der Grünen. Der damalige Außenminister Joschka Fischer wurde mit einem Farbbeutel attackiert, wodurch sein Trommelfell einen Riss erlitt. Und hier stritt die Partei heftig über die Frage, ob sich deutsche Truppen am Kosovo-Einsatz beteiligen sollen. Damals mussten die Grünen schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, auf Bundesebene zu regieren. Heute sind sie eine Regierungspartei in Lauerstellung.