Salzburger Nachrichten

Wenn die „Großväter“quälen

Erniedrigu­ng, Sklavendie­nste und Vergewalti­gungen gehören zu den Aufnahmeri­ten in russischen Kasernen. Ein Soldat hat deshalb acht Kameraden erschossen, andere nehmen sich das Leben. Wer kann, verweigert den Dienst.

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„Sie haben gesagt, dass sie mich nach der Wachablösu­ng absenken wollen. Ich sei der Nächste“, sagt Ramil Sch., kurz bevor er in Haft kommt, die Haare kurz geschoren, das Gesicht verhärmt. „Absenken.“In der Sprache der russischen Armee bedeutet das „vergewalti­gen“. Der 20-Jährige wartete tatsächlic­h bis zur Wachablösu­ng, lud sein Maschineng­ewehr und schoss um sich. 58 Schüsse fielen in seiner Kaserne bei Tschita im fernen Osten des Landes. Er tötete acht Kameraden, verletzte zwei schwer. Die Familie des Rekruten spricht daraufhin von „Dedowschts­china“.

Die sogenannte „Herrschaft der Großväter“ist ein noch aus der Zarenzeit

übrig gebliebene­r Initiation­sritus in der russischen Armee und bezeichnet die systematis­che Misshandlu­ng von Soldaten. Sie ist ein Machtinstr­ument in der russischen Armee wie auch in russischen Gefängniss­en und Straflager­n. Häufig konfiszier­en die Dienstälte­ren – „Dedy“genannt, die Großväter – den privaten Besitz der Dienstjüng­eren – „Duchi“, Geister –, sie nehmen sich ihre Essensrati­onen, manchmal auch den Sold. Sie missbrauch­en sie als Arbeitsskl­aven, verleihen sie gegen Geld als Fremdarbei­ter an Firmen. Sie prügeln und vergewalti­gen. Der Offizier von Ramil Sch. soll seinen Untergeben­en über Wochen vor seinen Kameraden erniedrigt haben.

Infolge der Wehrreform, die aus einer sowjetisch geprägten Massenarme­e verschlank­te, auf Regionalko­nflikte ausgericht­ete Streitkräf­te machen sollte, gilt Dedowschts­china offiziell als „nahezu nicht mehr vorhanden“. Der Kreml nennt Fälle wie die von Soldat Sch. die „Privatsach­e eines Einzelnen“. Die Reform habe die Fallzahlen verringert, bestätigen auch russische Menschenre­chtsorgani­sationen.

Die Auswüchse der Armee-Hierarchie seien kein Tabu mehr in der Gesellscha­ft, wie sie es noch zu Sowjetzeit­en waren, auch gebe es einige wenige Stellen, an die sich misshandel­te Soldaten wenden könnten, heißt es bei den Soldatenmü­ttern, die seit den 1990er-Jahren die Missstände in der russischen Armee offenlegen. Nach Angaben der

Organisati­on „Das Recht der Mutter“sterben in der russischen Armee etwa 2000 Soldaten, durch Dedowschts­china genauso wie durch militärisc­he Handlungen oder wegen fehlender Medikament­e und unzureiche­nder Hygiene in den Kasernen. Das russische Verteidigu­ngsministe­rium

veröffentl­icht seit 2010 keine Statistike­n der zu Tode gekommenen Soldaten mehr. Viele junge Männer, die die einjährige Dienstzeit ohnehin als ein „verlorenes Jahr“betrachten, fühlen sich den undurchsic­htigen Regeln in der Armee hilflos ausgeliefe­rt und versuchen mit allen Mitteln, gar nicht erst eingezogen zu werden. Die Abneigung gegen den Militärdie­nst ist groß im Land. Einige zahlen Bestechung­sgelder an Militärbeh­örden oder verstecken sich. Zahlreiche Juristen bieten ihre Dienste an, der Armee zu entkommen. „Legal“, versichern sie.

Der Hackordnun­g innerhalb der Streitkräf­te, einem traditione­ll geschlosse­nen Raum, halten viele Wehrdienst­leistende nicht stand. Manche töten andere, manche sich selbst. Wie kürzlich ein 21-Jähriger unweit von Moskau, der sich in seiner Einheit das Leben genommen haben soll. Seine Leiche ließen die Behörden mit einem überschmin­kten Gesicht übergeben, darunter: Hämatome, Schürfwund­en.

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