Salzburger Nachrichten

„Protest der Gelbwesten ist ein Marathon“

Dem ersten Jahr des Widerstand­s würden noch 99 weitere folgen, sagt ein Vordenker. Er spricht von einer Revolution der Mittelschi­cht.

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„Haben Sie etwa gedacht, wir seien nicht mehr da? Nur weil das Fernsehen nicht mehr über uns berichtet? Aber nein! Wir bleiben, bis sich etwas ändert.“Simone Diraud, zarte Statur, ergrautes Haar, gelbe Warnweste über der dunklen Windjacke, steht an einem Herbstsams­tag neben Mitstreite­rn vor dem Wirtschaft­sministeri­um in Paris und lächelt verschmitz­t. „Für mich spielt es keine Rolle, ob wir 200.000 sind wie am Anfang, 200 oder 20.“Auf den Rücken hat sich die 64-Jährige ein selbst gebastelte­s Plakat mit Schlagwort­en geklebt, die sie wichtig findet. „Mindestloh­n – Mehrheitsw­ahlrecht – Anerkennun­g leerer Stimmzette­l“, steht darauf. Und: „Was genug ist, ist genug.“

Sie sei gegen den entfesselt­en Kapitalism­us und halte die französisc­hen Politiker allesamt für Verräter, sagt die frühere Zahnarzthe­lferin aus der Vorstadt Romainvill­e. Ihr sanftmütig­es Lächeln scheint nicht so recht zu ihren wütenden

Worten zu passen. „Ich bin hier, um zu zeigen, dass wir uns das Maul nicht stopfen lassen.“

Simone Diraud gehört zum verblieben­en harten Kern der französisc­hen Gelbwesten-Bewegung, die vor einem Jahr begann und das Land vom Auftakt am Samstag, dem 17. November 2018, an über mehrere Monate hinweg in Atem hielt. Indem sie zunächst Kreisverke­hre blockierte­n und dann mehr und mehr in den Städten demonstrie­rten, protestier­ten sie gegen hohe Lebenshalt­ungskosten und steigende Preise für Benzin und Diesel. Bald weitete sich die Bewegung, die sich über soziale Netzwerke organisier­te, zu einem breiteren Widerstand gegen die Regierung und Präsident Emmanuel Macron aus. Mehrmals kam es zu Ausschreit­ungen am Rande der Demonstrat­ionen, bei denen sowohl Teilnehmer als auch Polizisten verletzt wurden.

Angesichts der bisher größten Krise seiner Amtszeit musste der Staatschef stückweise nachgeben: Zuerst wurden die geplanten Kraftstoff­preiserhöh­ungen ausgesetzt, dann bot er weitere Zugeständn­isse wie eine indirekte Erhöhung des Mindestloh­ns an. Schließlic­h ließ er Bürgerdeba­tten im ganzen Land organisier­en – doch es beteiligte­n sich vor allem seine Anhänger, während sich die Gelbwesten nicht vereinnahm­en lassen wollten. Wenn auch dezimiert, kommen diese weiterhin samstags zusammen, halten Fahnen mit Aufschrift­en wie „Die Hoffnung ist gelb“hoch und pfeifen die Polizisten aus.

Die Zeit der Widerständ­ler sei nicht vorbei, warnt der Geograf Christophe Guilluy: „Wir werden sie noch 100 Jahre lang haben.“Denn die Ursachen des Problems liegen ihm zufolge tief. Beschriebe­n hat er sie bereits 2014 in seinem Buch „Das periphere Frankreich. Wie wir unsere Arbeiterkl­asse opfern“. Guilluy analysiert­e darin die zunehmende Entfremdun­g der Eliten aus Politik und Wirtschaft von der unteren Mittelschi­cht, die die Mehrheit stelle und doch unsichtbar sei – oder es zumindest bis zum 17. November 2018 war.

Demnach wächst die Kluft zwischen den Globalisie­rungsgewin­nern und -verlierern, zwischen den Bewohnern der dynamische­n Metropolre­gionen und jenen der entlegenen Orte, die wirtschaft­lich und damit auch politisch, sozial und kulturell ausgegrenz­t werden. Hier schließen Schulen, Krankenhäu­ser, öffentlich­e Dienste und Fabriken, was zu Massenarbe­itslosigke­it und Armut führt – denn alternativ­e Jobs gibt es kaum. In der Tat: Wer durch Frankreich­s Dörfer fährt, begegnet oft keiner Menschense­ele, sieht geschlosse­ne Geschäfte und Fensterläd­en. Die Zentren kleiner Städte veröden. Den Sockel einer Gesellscha­ft derart auszuhöhle­n sei gefährlich, warnt Guilluy.

Um gehört und gesehen zu werden, drängten die Gelbwesten, überwiegen­d Arbeiter, Angestellt­e und kleine Selbststän­dige, von der Peripherie in die Metropolen, vor allem in Frankreich­s Machtzentr­um Paris. Ihre Demonstrat­ionen meldeten sie nicht an: Sie kamen ungefragt.

Doch hat man ihnen zugehört? Priscillia Ludosky, die durch einen Protestauf­ruf in den sozialen Netzwerken zu den Mitbegründ­ern und einer der bekanntest­en Figuren der Gelbwesten-Bewegung wurde, klingt heute enttäuscht: „Ich würde nicht sagen, dass es ein Erfolg war, aber es hat vieles geändert“, sagt die 34-Jährige. „Eine große Bewegung

„Ich würde nicht sagen, dass es ein Erfolg war, aber es hat vieles geändert.“

der Solidaritä­t entstand, die es so vorher nicht gab.“Weiterhin köchelt es im ganzen Land. Zum „Jubiläum“am Wochenende wird ein größerer Zulauf erwartet und die Gelbwesten könnten sich ab 5. Dezember mit den Gewerkscha­ften der Eisenbahne­r zusammentu­n. Diese planen massive Streiks im Widerstand gegen die geplante Reform der Pensionsve­rsicherung.

Die Regierung könne sich noch auf etwas gefasst machen, sagt Andreu Sole, der seit Monaten samstags in gelber Warnweste demonstrie­rt: Er wolle verhindern, dass seine Kinder und Enkel zu „modernen Sklaven“würden, die zwar einen Fernseher hätten, aber keinen festen Vertrag und keine echte Perspektiv­e, sagt der 67-jährige Soziologe im Ruhestand. Er klingt so entschloss­en wie Simone Diraud und die anderen samstäglic­hen Mitstreite­r. „Es gibt Sprinter und Marathonlä­ufer“, sagt Sole. „Und das hier ist ein Marathon.“Den wolle er weiterlauf­en, und wenn es sein muss, bis zum Umfallen.

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BILD: SN/AP/CHRISTOPHE ENA Dieses Wandbild in Paris sieht die Gelbwesten in der Tradition der französisc­hen Revolution­äre.
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Priscillia Ludosky, Aktivistin
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Birgit Holzer berichtet für die SN aus Frankreich

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