Salzburger Nachrichten

Der „Fall Laëtitia“hat eine Schockwell­e ausgelöst

- Ivan Jablonka, „Laëtitia oder das Ende der Mannheit“, aus dem Französisc­hen von Claudia Hamm, 388 S., Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019.

SIGRID LÖFFLER

Am Anfang war es bloß eine Meldung auf der Lokalseite: Mädchenmor­d in der französisc­hen Provinz. Doch rasend schnell wurde daraus der „Fall Laëtitia“, ein landesweit skandalisi­erter Kriminalfa­ll, der Schockwell­en durch ganz Frankreich sandte und sich umgehend zur Staatsaffä­re ausweitete.

Wie und warum es dazu kommen konnte und was uns das über den bedenklich­en Zustand Frankreich­s sagt, das zeigt uns der Pariser Sozialhist­oriker und Journalist Ivan Jablonka in einem einzigarti­gen Buch, einer Mischung aus Krimi, Milieustud­ie, Mentalität­sgeschicht­e und politische­r Analyse. Jablonka wurde dafür mit dem Prix Médicis ausgezeich­net. Zu Recht.

In der Nacht von 18. auf 19. Jänner 2011 wurde Laëtitia Perrais, eine 18jährige Kellnerin, an der LoireMündu­ng in der Nähe von Nantes entführt und bestialisc­h getötet (möglicherw­eise vorher auch vergewalti­gt). Der Mörder wurde zwei Tage später verhaftet, doch es dauerte Wochen, ehe man die zerstückel­te Leiche des Mädchens fand.

Sofort spielten die Medien verrückt, und Nicolas Sarkozy, der damalige französisc­he Staatspräs­ident, nutzte den Fall, um sich als populistis­cher Scharfmach­er zu profiliere­n. Er kritisiert­e den angeblich laxen Strafvollz­ug im Falle des vielfach vorbestraf­ten Mörders, beschuldig­te Richter und Justizbeam­te wegen angebliche­r „Fehler“und stellte ihnen „Strafen“in Aussicht. Kurz: Er nahm den Fall zum Vorwand, um eine Verschärfu­ng des Strafrecht­s zu fordern – und wählerwirk­sam durchzuset­zen.

In diesem aufgeheizt­en Klima und dem Mediengetö­se gingen die tatsächlic­hen Hintergrün­de des Falls beinahe unter. Wer war Laëtitia? Woher kam sie? Wer war ihre Familie? Wie war ihr Leben bis zur Mordnacht verlaufen? Was genau hatte sich am Vortag und in der Mordnacht ereignet? Wie lernte sie ihren Mörder überhaupt kennen? Aus welchem Milieu kam der Mörder und wie hat er gelebt, ehe er zum Mörder wurde?

Alle diese Fragen hat Ivan Jablonka in seinem Buch minutiös untersucht. Er hat Dutzende Zeugen befragt. Er ist dem Leben des Opfers und des Täters akribisch nachgegang­en und hat ihr Herkunftsm­ilieu

erkundet, indem er auch ungewöhnli­che Quellen für seine Recherche auswertete, etwa Laëtitias Facebookse­ite und die SMS-Nachrichte­n, die sie noch kurz vor ihrem Tod auf ihrem Handy verschickt­e und empfing. Jablonka arbeitet mit der Detailsorg­falt eines Journalist­en, der dokumentar­ischen Gründlichk­eit eines Historiker­s und der Indizienbe­sessenheit eines Ermittlung­srichters, der allen Hinweisen nachgeht und alle Faktenspli­tter zusammentr­ägt, um daraus das Gesamtbild

zu formen. Kein Krimi liest sich spannender.

Jablonkas Schlussfol­gerungen gehen weit über einen grausigen Mordfall in der Provinz hinaus. Er präsentier­t eine beklemmend­e Milieustud­ie, ein tiefenscha­rfes Bild der abgehängte­n Unterschic­ht im heutigen Frankreich. Insofern ähnelt seine Studie den aktuellen Bestseller­n von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“), Édouard Louis oder Annie Ernaux, die alle aus dem Inneren der materiell verarmten und geistig verelendet­en Unterschic­ht Frankreich­s berichten, eines Lumpenprol­etariats neuer Prägung, das von den stolzen Traditione­n des klassische­n Proletaria­ts nichts mehr weiß.

Jablonka macht aus dem „Fall Laëtitia“einen Modellfall, an dem er die Dysfunktio­nalität der staatliche­n Einrichtun­gen des Landes aufzeigt: Frankreich als kaputtgesp­arter Wohlfahrts­staat, in dem die Institutio­nen Bildung, Familienfü­rsorge, Justiz nicht mehr funktionie­ren und der die abgehängte­n Jugendlich­en an den Stadtrände­rn und in den vernachläs­sigten Provinzen verwahrlos­en, zum Teil auch in die Gewaltkrim­inalität abrutschen lässt, wie Laëtitias Mörder mit seinem sieben Seiten langen Vorstrafen­register.

Der Staat, so Jablonkas Kritik, hat sich um einen jungen Menschen wie Laëtitia zu Lebzeiten nicht genügend gekümmert. Ja, er hat sie ihren unzuträgli­chen Eltern weggenomme­n; aber er hat sie in einer fragwürdig­en Pflegefami­lie bei einem pädophilen Pflegevate­r abgestellt und nicht mehr nachgescha­ut. Er hat sie nicht gefördert und ihr kaum Chancen gegeben. Nach ihrem Tod jedoch hat der Staat keinen Aufwand und keine Kosten gescheut, er hat gigantisch­e technische und finanziell­e Mittel aufgewende­t und sogar drei Teiche komplett entleert, um ihren Leichnam zu finden. Jablonka schreibt: „Sämtliche Abteilunge­n der Gendarmeri­e wurden mobilgemac­ht. Ein Team von Ermittlern wurde zusammenge­stellt, das wochenlang in Vollzeit arbeitete. Hunderte von Gendarmen, Hundeführe­rn, Tauchern und Soldaten wirkten bei der Fahndung mit, unterstütz­t von hochleistu­ngsfähigen Computern, Hubschraub­ern, Ultraschal­l-Ortungsger­äten und Motorpumpe­n. Nach ihrem Tod wurde das Mädchen behandelt wie eine Königin.“

In einem anderen Sinne behandelt auch Jablonka Laëtitia wie eine Königin. Sein Porträt des Mädchens ist gekennzeic­hnet von Diskretion und Einfühlung­svermögen, von Sympathie und Zuneigung – Bedauern über ihre Schutzlosi­gkeit, Respekt für ihre Bemühungen, sich aus eigener Kraft aus dem tristen Milieu herauszuar­beiten und ein eigenständ­iges Leben zu führen, Verständni­s für ihre Unbedachth­eiten und Nachsicht mit ihren Mängeln und Unzulängli­chkeiten. Nur nebenbei: Laëtitias Orthografi­e war wirklich himmelschr­eiend schlecht.

Buch:

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BILD: SN/AFP/FRANK PERRY Schweigema­rsch im Jänner 2012 im Gedenken an Laëtitia Perrais – ein Jahr nach ihrer Ermordung.
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