Der „Fall Laëtitia“hat eine Schockwelle ausgelöst
SIGRID LÖFFLER
Am Anfang war es bloß eine Meldung auf der Lokalseite: Mädchenmord in der französischen Provinz. Doch rasend schnell wurde daraus der „Fall Laëtitia“, ein landesweit skandalisierter Kriminalfall, der Schockwellen durch ganz Frankreich sandte und sich umgehend zur Staatsaffäre ausweitete.
Wie und warum es dazu kommen konnte und was uns das über den bedenklichen Zustand Frankreichs sagt, das zeigt uns der Pariser Sozialhistoriker und Journalist Ivan Jablonka in einem einzigartigen Buch, einer Mischung aus Krimi, Milieustudie, Mentalitätsgeschichte und politischer Analyse. Jablonka wurde dafür mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. Zu Recht.
In der Nacht von 18. auf 19. Jänner 2011 wurde Laëtitia Perrais, eine 18jährige Kellnerin, an der LoireMündung in der Nähe von Nantes entführt und bestialisch getötet (möglicherweise vorher auch vergewaltigt). Der Mörder wurde zwei Tage später verhaftet, doch es dauerte Wochen, ehe man die zerstückelte Leiche des Mädchens fand.
Sofort spielten die Medien verrückt, und Nicolas Sarkozy, der damalige französische Staatspräsident, nutzte den Fall, um sich als populistischer Scharfmacher zu profilieren. Er kritisierte den angeblich laxen Strafvollzug im Falle des vielfach vorbestraften Mörders, beschuldigte Richter und Justizbeamte wegen angeblicher „Fehler“und stellte ihnen „Strafen“in Aussicht. Kurz: Er nahm den Fall zum Vorwand, um eine Verschärfung des Strafrechts zu fordern – und wählerwirksam durchzusetzen.
In diesem aufgeheizten Klima und dem Mediengetöse gingen die tatsächlichen Hintergründe des Falls beinahe unter. Wer war Laëtitia? Woher kam sie? Wer war ihre Familie? Wie war ihr Leben bis zur Mordnacht verlaufen? Was genau hatte sich am Vortag und in der Mordnacht ereignet? Wie lernte sie ihren Mörder überhaupt kennen? Aus welchem Milieu kam der Mörder und wie hat er gelebt, ehe er zum Mörder wurde?
Alle diese Fragen hat Ivan Jablonka in seinem Buch minutiös untersucht. Er hat Dutzende Zeugen befragt. Er ist dem Leben des Opfers und des Täters akribisch nachgegangen und hat ihr Herkunftsmilieu
erkundet, indem er auch ungewöhnliche Quellen für seine Recherche auswertete, etwa Laëtitias Facebookseite und die SMS-Nachrichten, die sie noch kurz vor ihrem Tod auf ihrem Handy verschickte und empfing. Jablonka arbeitet mit der Detailsorgfalt eines Journalisten, der dokumentarischen Gründlichkeit eines Historikers und der Indizienbesessenheit eines Ermittlungsrichters, der allen Hinweisen nachgeht und alle Faktensplitter zusammenträgt, um daraus das Gesamtbild
zu formen. Kein Krimi liest sich spannender.
Jablonkas Schlussfolgerungen gehen weit über einen grausigen Mordfall in der Provinz hinaus. Er präsentiert eine beklemmende Milieustudie, ein tiefenscharfes Bild der abgehängten Unterschicht im heutigen Frankreich. Insofern ähnelt seine Studie den aktuellen Bestsellern von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“), Édouard Louis oder Annie Ernaux, die alle aus dem Inneren der materiell verarmten und geistig verelendeten Unterschicht Frankreichs berichten, eines Lumpenproletariats neuer Prägung, das von den stolzen Traditionen des klassischen Proletariats nichts mehr weiß.
Jablonka macht aus dem „Fall Laëtitia“einen Modellfall, an dem er die Dysfunktionalität der staatlichen Einrichtungen des Landes aufzeigt: Frankreich als kaputtgesparter Wohlfahrtsstaat, in dem die Institutionen Bildung, Familienfürsorge, Justiz nicht mehr funktionieren und der die abgehängten Jugendlichen an den Stadträndern und in den vernachlässigten Provinzen verwahrlosen, zum Teil auch in die Gewaltkriminalität abrutschen lässt, wie Laëtitias Mörder mit seinem sieben Seiten langen Vorstrafenregister.
Der Staat, so Jablonkas Kritik, hat sich um einen jungen Menschen wie Laëtitia zu Lebzeiten nicht genügend gekümmert. Ja, er hat sie ihren unzuträglichen Eltern weggenommen; aber er hat sie in einer fragwürdigen Pflegefamilie bei einem pädophilen Pflegevater abgestellt und nicht mehr nachgeschaut. Er hat sie nicht gefördert und ihr kaum Chancen gegeben. Nach ihrem Tod jedoch hat der Staat keinen Aufwand und keine Kosten gescheut, er hat gigantische technische und finanzielle Mittel aufgewendet und sogar drei Teiche komplett entleert, um ihren Leichnam zu finden. Jablonka schreibt: „Sämtliche Abteilungen der Gendarmerie wurden mobilgemacht. Ein Team von Ermittlern wurde zusammengestellt, das wochenlang in Vollzeit arbeitete. Hunderte von Gendarmen, Hundeführern, Tauchern und Soldaten wirkten bei der Fahndung mit, unterstützt von hochleistungsfähigen Computern, Hubschraubern, Ultraschall-Ortungsgeräten und Motorpumpen. Nach ihrem Tod wurde das Mädchen behandelt wie eine Königin.“
In einem anderen Sinne behandelt auch Jablonka Laëtitia wie eine Königin. Sein Porträt des Mädchens ist gekennzeichnet von Diskretion und Einfühlungsvermögen, von Sympathie und Zuneigung – Bedauern über ihre Schutzlosigkeit, Respekt für ihre Bemühungen, sich aus eigener Kraft aus dem tristen Milieu herauszuarbeiten und ein eigenständiges Leben zu führen, Verständnis für ihre Unbedachtheiten und Nachsicht mit ihren Mängeln und Unzulänglichkeiten. Nur nebenbei: Laëtitias Orthografie war wirklich himmelschreiend schlecht.
Buch: