Das Gesicht des Bösen
Wie werden aus normalen Menschen Schwerverbrecher? Warum bricht das Böse bei manchen Menschen aus und bei anderen nicht? Eine Reise in die Abgründe der menschlichen Seele.
Sein Gesicht wird sie nie vergessen. Bis heute hört sie sein Lachen, kann sich genau an seinen Geruch erinnern. Noch immer hallen die Worte ihres damaligen Freunds Daniel vom Morgen des Attentats nach. „Ich gehe sowieso ins Gefängnis“, sagte er. Und schüttete ihr eine ätzende Flüssigkeit ins Gesicht.
Sechs Monate waren Vanessa Münstermann und Daniel ein Paar. Heute ziehen sich Narbenwulste über ihre gesamte linke Gesichtshälfte, sie verlor bei dem Säureattentat ihre linke Ohrmuschel und das linke Auge. Warum er seine damals 26-jährige Freundin im Februar des Jahres 2016 entstellte, versteht Vanessa Münstermann bis heute nicht. Sie stritten viel, er fühlte sich wahrscheinlich nicht genügend geliebt. „Ich habe viel über Daniel nachgeforscht“, sagt sie. Immer wieder gelangte sie zu der Einsicht, dass die Wurzeln in Daniels Kindheit begraben liegen müssen. „Seine Adoptiveltern gaben ihm nicht die Zuneigung, die er gebraucht hätte.“
Wie sieht eine Frau, die so etwas erleben musste, das Böse? „Ich habe mich über viele Jahre hinweg mit dem Bösen beschäftigt“, sagt Münstermann. Heute weiß sie: „Daniel ist nicht böse, er ist krank.“Er habe eine böse Tat begangen.
Herbert Hanetseder hat dem Bösen 37 Jahre lang ins Gesicht gesehen. So lange arbeitete er als Kriminalpolizist. Hanetseder hatte Mörder vor sich sitzen, Räuber, Erpresser, alle möglichen Gewaltverbrecher. Er hatte mit Pädophilen zu tun, die zu Hause ein scheinbar normales Familienleben führten. Auch die Opfer hat er gesehen, Menschen, die erschossen oder erwürgt worden waren, Wasserleichen, Babyleichen.
Hanetseder war viele Jahre Leiter des Ermittlungsbereichs 1 im Salzburger Landeskriminalamt. Sein Aufgabengebiet: Kapitalverbrechen. Wie also sieht das Böse aus, Herr Hanetseder?
Ein böser Mensch habe kein spezielles Aussehen, kein typisches Gesicht, sagt Hanetseder. „Ich hatte Mörder vor mir sitzen, von denen man nicht glauben würde, dass sie Mörder waren.“Manche hätten eher ausgesehen wie Milchbubis.
Ein Säureattentat, ein Mord: Unzweifelhaft sind das böse Taten, ebenso wie Vergewaltigung, Folter, Terror, Selbstmordanschläge, Kriege, Kindesmisshandlung.
Aber wo beginnt das Böse? Bei der Körperverletzung? Oder schon bei der zynischen Bemerkung? Ist es auch böse, das Leiden anderer zu ignorieren oder zu verdrängen? Und ist es dann folgerichtig böse, Billigfleisch zu essen, wenn man weiß, dass es von Hühnern und Schweinen aus Massentierhaltung stammt, deren kurzes Leben einzig und allein aus Qualen bestand?
„Böse ist ein Handeln immer dann, wenn man einem Lebewesen bewusst Schaden zufügt“, sagt Moraltheologe Andreas-Michael Weiss (siehe dazu auch Artikel rechts). Auch Tierquälerei sei also als moralisch böse einzustufen. „Die Definition bezieht alle leidensfähigen Lebewesen mit ein.“
Böse – das waren für den pensionierten Kriminalisten Hanetseder beispielsweise jene rumänischen Bettler, die im Dezember 2012 in Köstendorf eine Arztwitwe gefesselt, geknebelt und getötet haben. Böse – das waren für ihn Väter, die ihre wenige Monate alten Kinder geprügelt und geschüttelt haben. „Das ist für mich das Böse im Menschen – dass man so etwas bei einem unschuldigen Kind machen kann.“Über den Bankräuber, der aus Verzweiflung eine Bankfiliale überfallen hatte und sich später bei ihm für die „faire Behandlung“bedankte, sagt er dagegen: „Der machte das in einer ausweglosen Situation, den würde ich nicht unbedingt als böse bezeichnen.“
Wieder etwas anders zieht die Grenze Stefan Rieder. Auch er ist täglich mit dem Bösen konfrontiert. Rieder ist Opferanwalt und Salzburger Landesleiter der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring. Böse – das ist für Rieder, „wenn eine rote Linie überschritten wird“. Und diese „rote Linie“sei das Strafgesetzbuch. Die Frage, ob man in den Biografien von Verbrechern etwas Gemeinsames entdecken könne, beantwortet Rieder so: „Meine Erfahrung ist, dass oft in der Erziehung und in der Jugend einiges schiefgegangen ist, dass der Vater fehlte, die Mutter überfordert war. Solche Defizite können von der Schule nicht aufgefangen werden.“
Das Böse begleite den Menschen seit Beginn, es sei allgegenwärtig und zeitlos, schreibt der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller in seinem soeben erschienenen Buch „Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität“(ecowin Verlag). Haller hat zahlreiche Schwerverbrecher befragt, Terroristen, Räuber, Kinderschänder, Amokläufer, den Prostituiertenmörder Jack Unterweger, den Bombenleger Franz Fuchs und viele andere. Für Haller steht fest: Jeder Mensch habe böse Gedanken und negative Ideen. Und das sei nichts prinzipiell Schlechtes. Aggressive Impulse gedanklich durchzuspielen sei oft sogar entlastend. Entscheidend sei, ob „der Schritt zur Verwirklichung, zum bösen Werk getan wird“. Böse sei eine Tat vor allem dann, wenn sie bei klarem Verstand, also „in vollsinnigem Zustand entworfen wurde“. Und wenn diese böse Tat eiskalt und genau geplant worden sei.
Schon Sigmund Freud stellte in seiner kulturkritischen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“aus dem Jahr 1930 fest, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, dass er „nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.“
Warum Menschen anderen Schmerzen bereiten und sie töten – diese Frage stellen sich viele Opfer bzw. deren Angehörige. Und diese Frage stellt sich auch Vanessa Münstermann heute noch. Ihr entstelltes Gesicht erinnert sie tagtäglich an das, was geschah. Dabei hätte sie die Tat vorhersehen können, wie sie heute sagt. „Ich bin lachend in die Kreissäge gelaufen.“Körper