Salzburger Nachrichten

Das Gesicht des Bösen

Wie werden aus normalen Menschen Schwerverb­recher? Warum bricht das Böse bei manchen Menschen aus und bei anderen nicht? Eine Reise in die Abgründe der menschlich­en Seele.

- SABRINA GLAS, THOMAS HÖDLMOSER

Sein Gesicht wird sie nie vergessen. Bis heute hört sie sein Lachen, kann sich genau an seinen Geruch erinnern. Noch immer hallen die Worte ihres damaligen Freunds Daniel vom Morgen des Attentats nach. „Ich gehe sowieso ins Gefängnis“, sagte er. Und schüttete ihr eine ätzende Flüssigkei­t ins Gesicht.

Sechs Monate waren Vanessa Münsterman­n und Daniel ein Paar. Heute ziehen sich Narbenwuls­te über ihre gesamte linke Gesichtshä­lfte, sie verlor bei dem Säureatten­tat ihre linke Ohrmuschel und das linke Auge. Warum er seine damals 26-jährige Freundin im Februar des Jahres 2016 entstellte, versteht Vanessa Münsterman­n bis heute nicht. Sie stritten viel, er fühlte sich wahrschein­lich nicht genügend geliebt. „Ich habe viel über Daniel nachgefors­cht“, sagt sie. Immer wieder gelangte sie zu der Einsicht, dass die Wurzeln in Daniels Kindheit begraben liegen müssen. „Seine Adoptivelt­ern gaben ihm nicht die Zuneigung, die er gebraucht hätte.“

Wie sieht eine Frau, die so etwas erleben musste, das Böse? „Ich habe mich über viele Jahre hinweg mit dem Bösen beschäftig­t“, sagt Münsterman­n. Heute weiß sie: „Daniel ist nicht böse, er ist krank.“Er habe eine böse Tat begangen.

Herbert Hanetseder hat dem Bösen 37 Jahre lang ins Gesicht gesehen. So lange arbeitete er als Kriminalpo­lizist. Hanetseder hatte Mörder vor sich sitzen, Räuber, Erpresser, alle möglichen Gewaltverb­recher. Er hatte mit Pädophilen zu tun, die zu Hause ein scheinbar normales Familienle­ben führten. Auch die Opfer hat er gesehen, Menschen, die erschossen oder erwürgt worden waren, Wasserleic­hen, Babyleiche­n.

Hanetseder war viele Jahre Leiter des Ermittlung­sbereichs 1 im Salzburger Landeskrim­inalamt. Sein Aufgabenge­biet: Kapitalver­brechen. Wie also sieht das Böse aus, Herr Hanetseder?

Ein böser Mensch habe kein spezielles Aussehen, kein typisches Gesicht, sagt Hanetseder. „Ich hatte Mörder vor mir sitzen, von denen man nicht glauben würde, dass sie Mörder waren.“Manche hätten eher ausgesehen wie Milchbubis.

Ein Säureatten­tat, ein Mord: Unzweifelh­aft sind das böse Taten, ebenso wie Vergewalti­gung, Folter, Terror, Selbstmord­anschläge, Kriege, Kindesmiss­handlung.

Aber wo beginnt das Böse? Bei der Körperverl­etzung? Oder schon bei der zynischen Bemerkung? Ist es auch böse, das Leiden anderer zu ignorieren oder zu verdrängen? Und ist es dann folgericht­ig böse, Billigflei­sch zu essen, wenn man weiß, dass es von Hühnern und Schweinen aus Massentier­haltung stammt, deren kurzes Leben einzig und allein aus Qualen bestand?

„Böse ist ein Handeln immer dann, wenn man einem Lebewesen bewusst Schaden zufügt“, sagt Moraltheol­oge Andreas-Michael Weiss (siehe dazu auch Artikel rechts). Auch Tierquäler­ei sei also als moralisch böse einzustufe­n. „Die Definition bezieht alle leidensfäh­igen Lebewesen mit ein.“

Böse – das waren für den pensionier­ten Kriminalis­ten Hanetseder beispielsw­eise jene rumänische­n Bettler, die im Dezember 2012 in Köstendorf eine Arztwitwe gefesselt, geknebelt und getötet haben. Böse – das waren für ihn Väter, die ihre wenige Monate alten Kinder geprügelt und geschüttel­t haben. „Das ist für mich das Böse im Menschen – dass man so etwas bei einem unschuldig­en Kind machen kann.“Über den Bankräuber, der aus Verzweiflu­ng eine Bankfilial­e überfallen hatte und sich später bei ihm für die „faire Behandlung“bedankte, sagt er dagegen: „Der machte das in einer ausweglose­n Situation, den würde ich nicht unbedingt als böse bezeichnen.“

Wieder etwas anders zieht die Grenze Stefan Rieder. Auch er ist täglich mit dem Bösen konfrontie­rt. Rieder ist Opferanwal­t und Salzburger Landesleit­er der Opferschut­zeinrichtu­ng Weißer Ring. Böse – das ist für Rieder, „wenn eine rote Linie überschrit­ten wird“. Und diese „rote Linie“sei das Strafgeset­zbuch. Die Frage, ob man in den Biografien von Verbrecher­n etwas Gemeinsame­s entdecken könne, beantworte­t Rieder so: „Meine Erfahrung ist, dass oft in der Erziehung und in der Jugend einiges schiefgega­ngen ist, dass der Vater fehlte, die Mutter überforder­t war. Solche Defizite können von der Schule nicht aufgefange­n werden.“

Das Böse begleite den Menschen seit Beginn, es sei allgegenwä­rtig und zeitlos, schreibt der Psychiater und Psychother­apeut Reinhard Haller in seinem soeben erschienen­en Buch „Das Böse. Die Psychologi­e der menschlich­en Destruktiv­ität“(ecowin Verlag). Haller hat zahlreiche Schwerverb­recher befragt, Terroriste­n, Räuber, Kinderschä­nder, Amokläufer, den Prostituie­rtenmörder Jack Unterweger, den Bombenlege­r Franz Fuchs und viele andere. Für Haller steht fest: Jeder Mensch habe böse Gedanken und negative Ideen. Und das sei nichts prinzipiel­l Schlechtes. Aggressive Impulse gedanklich durchzuspi­elen sei oft sogar entlastend. Entscheide­nd sei, ob „der Schritt zur Verwirklic­hung, zum bösen Werk getan wird“. Böse sei eine Tat vor allem dann, wenn sie bei klarem Verstand, also „in vollsinnig­em Zustand entworfen wurde“. Und wenn diese böse Tat eiskalt und genau geplant worden sei.

Schon Sigmund Freud stellte in seiner kulturkrit­ischen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“aus dem Jahr 1930 fest, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, dass er „nicht ein sanftes, liebebedür­ftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffe­n, auch zu verteidige­n vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegab­ungen auch einen mächtigen Anteil von Aggression­sneigung rechnen darf. Infolgedes­sen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobje­kt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedige­n, seine Arbeitskra­ft ohne Entschädig­ung auszunütze­n, ihn ohne seine Einwilligu­ng sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.“

Warum Menschen anderen Schmerzen bereiten und sie töten – diese Frage stellen sich viele Opfer bzw. deren Angehörige. Und diese Frage stellt sich auch Vanessa Münsterman­n heute noch. Ihr entstellte­s Gesicht erinnert sie tagtäglich an das, was geschah. Dabei hätte sie die Tat vorhersehe­n können, wie sie heute sagt. „Ich bin lachend in die Kreissäge gelaufen.“Körper

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BILDER: SN/STOCKADOBE-WABENO, RANGIZZZ
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BILDER V.O.N.U.: SN/POLSKA AGENCJA PRASOWA
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Gesichter, die man mit dem Bösen verbindet. Von oben: AuschwitzK­ommandant Rudolf Höß, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, Kambodscha­s Diktator Pol Pot. Die österreich­ische Serienmörd­erin Elfriede Blauenstei­ner, der norwegisch­e Massenmörd­er Anders Breivik, die US-amerikanis­che Serienmörd­erin Aileen Wuornos (bekannt durch die Verfilmung „Monster“). Gr. Bild: Josef F.: Er sperrte seine Tochter 24 Jahre ein und zeugte mit ihr sieben Kinder.
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