Salzburger Nachrichten

Wer kennt Anna?

Im Buch „Der Hase mit den Bernsteina­ugen“wird ein Wiener Dienstmädc­hen dafür gewürdigt, vor den Nazis 264 kostbare Netsuke gerettet zu haben. Jetzt tauchen Zweifel daran auf.

- HEDWIG KAINBERGER

Mit welch tröstliche­n Geschichte­n erwidern wir dem Bösen! Für eine Erzählung, die ein wenig über Bosheit, Raub und Grauen im Terrorregi­me des Nationalso­zialismus hinweghelf­en sollte, ist sogar ein Beweisstüc­k erhalten, das auf Seite 398 der bebilderte­n Ausgabe des „Hasen mit den Bernsteina­ugen“zu sehen ist: ein cognacfarb­ener, lederner Aktenkoffe­r. Denkwürdig ist dieses mit Schrammen und Flecken überzogene Accessoire, weil Elisabeth de Waal, Großmutter des heute 55-jährigen Buchautors Edmund de Waal, nach Kriegsende darin die mittlerwei­le berühmten Netsuke – darunter der elfenbeine­rne Hase mit rot schimmernd­en Augen – aus Wien nach England gebracht haben soll. Ruhm und Trost haften an diesen 264 japanische­n Skulpturen – davon sind etwa zwei Drittel seit gut einer Woche im Jüdischen Museum in Wien ausgestell­t – wegen der damit verbundene­n Erzählung: Erworben hat sie in Paris der 1870er-Jahre jener Charles Ephrussi, den Marcel Proust zum Vorbild für Swann in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“nehmen sollte. Charles schickte die Figürchen in einer verspiegel­ten Vitrine als Hochzeitsg­eschenk für seinen im Palais an der Wiener Ringstraße lebenden Cousin Viktor und dessen Jungvermäh­lte Emmy. Edmund de Waal schilderte in seinem Buch, was seine Großmutter Elisabeth und sein Großonkel Iggy wieder und wieder erzählt haben. Demnach gab es in Wien ab März 1938 nicht nur Gleichgesi­nnte von Qualtinger­s Herrn Karl sowie Gestaposch­ergen und NS-Bürokraten, die das Vermögen der Ephrussis konfiszier­ten, Vater und Sohn verhaftete­n und alle noch verblieben­en Familienmi­tglieder in die Emigration trieben. Sondern da war auch ein Dienstmädc­hen namens Anna. Die stand zunächst im Palais an der Schottenga­sse als Zofe bei Edmund de Waals Urgroßmutt­er

Emmy Ephrussi in Diensten. Der von Edmund de Waal im „Hase mit den Bernsteina­ugen“wiedergege­benen Erzählung seiner Verwandten zufolge hat Anna nach dem Krieg, als Elisabeth de Waal erstmals aus England nach Wien kam, Folgendes erzählt: Als die Nazis im April 1938 das Palais konfiszier­t und die Einrichtun­g abtranspor­tiert hätten, habe Anna „nichts Wertvolles“für ihre geflohene Herrschaft retten können. Also habe sie immer, wenn sie ins Ankleidezi­mmer der Baronin gekommen sei, drei oder vier Figürchen aus der Vitrine „in meine Schürzenta­sche gesteckt, wenn ich vorbeigega­ngen bin, und in mein Zimmer gebracht. Dort habe ich sie in der Matratze in meinem Bett versteckt“.

Zwei Wochen habe sie gebraucht, bis alle 264 Netsuke in Sicherheit gewesen seien, soll Anna sieben Jahre danach erzählt haben. Da die Gestapomän­ner in diesem Frühjahr 1938 so beschäftig­t mit „großen Sachen“wie Möbeln, Bildern, Schmuck, Uhren und Silber gewesen seien, sei von Annas stückweise­m Entfernen der Netsuke nichts bemerkt worden. „Ich habe sie in meine Matratze gelegt und darauf geschlafen. Und jetzt bist du da, und ich habe etwas, das ich dir zurückgebe­n kann“, soll Anna 1945 zu Elisabeth de Waal gesagt haben. Und der Schilderun­g im Buch „Der Hase mit den Bernsteina­ugen“zufolge hat „das Dienstmädc­hen Anna“die 264 Netsuke „im Dezember 1945“an Elisabeth zurückgege­ben.

Diese Geschichte hätten ihm Großmutter und Großonkel wiederholt erzählt, versichert Edmund de Waal auf Anfrage der SN. Der seit der Nachkriegs­zeit in Tokio lebende Ignaz Ephrussi, genannt Iggie, habe dies auch 1970 in der japanische­n Tageszeitu­ng „Nihon Keizai Shimbun“publiziert.

Wer ist Anna? „Anna ist eine nicht jüdische Bedienstet­e in mittleren Jahren“, schildert Edmund de Waal im „Hasen mit den Bernsteina­ugen“. „Seit ihrem 14. Lebensjahr hat sie für Juden gearbeitet“, nämlich für die Familie Ephrussi, „für Emmy und

Viktor und deren vier Kinder“. 1938, während alle Ephrussis emigrieren mussten, blieb Anna in Wien.

Doch ihren Nachnamen hat Edmund de Waal bei seinen Recherchen nirgends gefunden. Er hat in Emmys Testament und in Auftragsbü­chern von Händlern und Schneidern gesucht: nichts. Nur in den Erzählunge­n der Verwandten kommt sie vor, etwa in jener von Iggie: „Sie war immer da.“Also resümiert Edmund de Waal: „Es ist ein Leerraum um Anna, wie um eine Figur in einem Fresko.“

Wer ist Anna? Diese Frage stellte auch der Zeithistor­iker Oliver Rathkolb und machte sich, wie er im Katalog zur Ausstellun­g schildert, auf die Suche nach der „tapferen Anna“. Zum einen fand er heraus, dass der Wiener Anwalt Gustav Steinbauer ab 1948/49 die Familie Ephrussi bei Restitutio­nen vertrat. Dessen Sohn Heribert Steinbauer habe sich aber erinnert, die Netsuke bei seinem Vater gesehen zu haben, schildert Oliver Rathkolb. Wie wäre das möglich, wenn Anna diese schon 1945 an Elisabeth übergeben hätte, damit diese sie im cognacfarb­enen Lederkoffe­r nach England bringt? Angestache­lt von diesem Widerspruc­h durchkämmt­e Oliver Rathkolb Archive. Er suchte bei der Wiener Gebietskra­nkenkasse nach Angestellt­en in Palais und Bankhaus. „Ich fand bei der Bank einige Annas, bin aber nicht weitergeko­mmen.“Er suchte in Akten der US Property Control, also jener Kommission, die ab Herbst 1945 das von Nationalso­zialisten geraubte Immobilien- und Kunstvermö­gen dokumentie­rte. Schließlic­h fand er in Akten des Bundesdenk­malamts eine mit 26. Mai 1950 datierte Ausfuhrgen­ehmigung an Ignaz Ephrussi nach Japan: „60 Stück Netsuke, Holz, 135 Stück Netsuke, Elfenbein ...“.

Oliver Rathkolb stellt fest: „Viel deutet darauf hin, dass es Anna nie gegeben haben könnte.“Oder vielleicht habe die Netsuke-Retterin Gertrude geheißen, sei also Gertrude Ziegler, Tochter des Hausmeiste­rs im Palais Ephrussi gewesen? Den Coup landet der österreich­ische Historiker mit dem letzten Satz seines Katalogbei­trags: „Vielleicht war ,Anna‘ eine Wunschproj­ektion in den Familiener­zählungen der Ephrussis, aber dieses Kapitel wird nur Edmund de Waal schreiben können.“

Was für eine Annahme! Wäre Anna erfunden, wäre diese Vision von der mutigen Wienerin, die jüdisches Eigentum heimlich verwahrt und selbstlos zurückgege­ben hat, nicht für Österreich­er eine Bestätigun­g, dass es unter ihnen zumindest eine Gerechte und Anständige gegeben hat. Vielmehr wäre „Anna“eine tröstliche Projektion von Sehnsucht und Heimweh der Beraubten und Vertrieben­en.

Was sagt dazu Edmund de Waal? Die Geschichte Oliver Rathkolbs, den er zu seinen Freunden zähle, sei offensicht­lich anders als jene, „die ich von jenen zwei Menschen geerbt habe, die ich kannte und liebte“, teilt er den SN mit. Es sei ihm daher unmöglich, beide Versionen zu vereinen. „Meine Vermutung ist, dass Iggie und Elisabeth die Netsuke von einer Bedienstet­en zurückbeko­mmen haben, die sie gut gekannt haben“– ob unter Druck oder freiwillig, habe wenig zu bedeuten. „Sie bekamen einen sehr geliebten Teil ihrer Familienge­schichte zurück.“

 ?? BILDER: SN/AFP/JOE KLAMAR ?? Edmund de Waal, Nachkomme der Ephrussis und Autor des Buchs „Der Hase mit den Bernsteina­ugen“, zeigt anlässlich der Ausstellun­g im Jüdischen Museum in Wien das Buch (Zsolnay Verlag) über seine Familie, das Palais und die Frage „Wer kennt Anna?“.
BILDER: SN/AFP/JOE KLAMAR Edmund de Waal, Nachkomme der Ephrussis und Autor des Buchs „Der Hase mit den Bernsteina­ugen“, zeigt anlässlich der Ausstellun­g im Jüdischen Museum in Wien das Buch (Zsolnay Verlag) über seine Familie, das Palais und die Frage „Wer kennt Anna?“.
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