Neue Routen im Welthandel
Vor 150 Jahren wurde der Suezkanal eröffnet – brauchen wir ihn bald nicht mehr? 90 Prozent der Waren werden per Schiff transportiert. Dabei sind Abkürzungen entscheidend, denn sie sparen Zeit und Treibstoff.
Die Fahrt von Asien nach Europa war lange eine sehr umständliche Angelegenheit, denn Schiffe mussten Afrika umfahren. Die ganze Ostküste hinunter bis Kapstadt, ums Kap der Guten Hoffnung herum und wieder die ganze Westküste hinauf. Die Route Singapur–Rotterdam betrug dadurch 11.755 Seemeilen.
Seit Eröffnung des Suezkanals am 17. November 1869 geht alles viel schneller. Der 163 Kilometer lange Durchstich zwischen Rotem Meer und Mittelmeer erspart Schiffen die Umrundung Afrikas. Sie nehmen stattdessen die Abkürzung durch den Kanal, der an den Wüstengebieten am Rand der Sinaihalbinsel vorbeiführt. Dadurch schrumpft die Entfernung Singapur–Rotterdam um beachtliche 3474 Seemeilen auf 8281 Seemeilen – um 30 Prozent. Vom Persischen Golf nach London beträgt die Verkürzung sogar 43 Prozent.
Fast zehn Jahre dauerte der Bau des Kanals und kostete gut 19 Millionen Pfund Sterling. 1,5 Millionen Menschen waren an den Arbeiten beteiligt, 125.000 starben dabei. Lange Zeit unter britischer Kontrolle, wurde der Kanal 1956 verstaatlicht, woraufhin israelische, britische und französische Truppen angriffen. Die Suezkrise endete schnell, aber versenkte Schiffe versperrten die Durchfahrt bis ins Jahr 1957. Im Sechstagekrieg 1967 rückte Israel bis zum Kanal vor. Es folgten acht Jahre ohne Schiffsverkehr, bis zur Wiedereröffnung 1975.
Danach gab es keine Unterbrechungen mehr, und seit der Erweiterung 2015 ist der Kanal zweispurig befahrbar, sodass für Schiffe die lästigen Wartezeiten entfallen.
Der Suezkanal gehöre heute zu den Top 5 der Wasserstraßen, sagt Christian Denso vom Verband Deutscher Reeder. Schätzungen zufolge laufen acht Prozent des Welthandels hindurch. Sehr oft sind es Tanker, „denn der Kanal bildet die direkte Verbindung zwischen den Erdölförderstätten im Nahen Osten und Nordeuropa“. Die Erdöllieferungen gehen aber auch in Teile Nordamerikas, weil der Weg dorthin über den Kanal kürzer ist als über den Pazifik. Zudem nehmen viele Containerschiffe die künstliche Wasserstraße, darunter die derzeit größten, die 23.000 Standardcontainer tragen können. Der Suezkanal liegt für sie günstig zwischen Nordeuropa und Asien, wo sich die größten Häfen weltweit befinden: Schanghai, Singapur, Hongkong, Shenzhen, Busan. Was von dort nach Europa gelangt, ist durch den Suezkanal transportiert worden.
Ob das so bleibt? Die Erderwärmung ist in vollem Gang und sorgt dafür, dass hoch oben im arktischen Norden, an Russlands langer Küstenlinie, ein Seeweg immer öfter befahrbar ist, der bisher die meiste Zeit des Jahres vereist war: die Nordostpassage. Schiffe, die diese Route nehmen, sparen mehrere Tausend Kilometer Strecke, was die Treibstoffkosten um fast ein Drittel senkt. Denso glaubt aber nicht, dass sich die Schifffahrt deswegen Richtung Sibirien verlagert. Zwar kann die Nordostpassage in Einzelfällen eine Alternative sein, etwa bei Schwerguttransporten von Japan nach Norwegen. Schließlich ist Brennstoff der teuerste Posten im Betrieb eines Schiffs – und eine kürzere Strecke somit durchaus erst mal interessant. Aber es spricht auch einiges gegen die Polarroute. „Da gibt es viele Formalitäten zu erledigen, die Eissituation ist nicht immer vorhersagbar, auch sind die Gewässer nicht überall ausreichend kartografiert.“Und: Hilfe im Notfall, und sei es auch nur bei einem kleinen Schiffschaden, muss meist von weit her kommen. Der größte Nachteil liegt für Denso aber darin, dass in der Containerschifffahrt nicht immer der direkte, kürzeste Weg der sinnvollste ist. Vielmehr sind die Häfen zwischen Start und Ziel entscheidend. „Wie bei einem Linienbus, der verschiedene Busstationen anfährt, an denen Leute aus- und zusteigen, laufen die großen Containerschiffe aus Asien auch viele Unterwegshäfen an und schlagen Container um, bevor sie Hamburg oder Rotterdam erreichen. Im Norden Russlands gibt es solche Häfen aber nicht.“
Dass es entlang der Nordostpassage keine Piraten gibt, sieht Denso nicht als entscheidend, denn die Sicherheitslage am Horn von Afrika hat sich entschärft. Im Rahmen der EU-Mission „Atlanta“sind dort Kriegsschiffe unterwegs und schützen den Handelsverkehr. „Die Piraterie vor Somalias Küste steht weitgehend unter Kontrolle“, so Denso. Alles in allem werde die Nordostpassage auf absehbare Zeit keine echte Alternative sein, selbst wenn mittlerweile Dutzende Schiffe um Sibirien herumfahren. „Schauen wir uns die Relationen an: Den Suezkanal nehmen 18.000 Schiffe im Jahr.“
Mit 12.000 Schiffen jährlich etwas weniger frequentiert und mit 105 Jahren auch etwas jünger ist die zweite berühmte, künstlich angelegte Wasserstraße, der Panamakanal.
82 Kilometer lang und anders als der Suezkanal ein Schleusenkanal, verbindet er Atlantik und Pazifik, sodass Schiffe nicht um Kap Hoorn herum oder durch die Magellanstraße müssen. Auch der Panamakanal wurde erweitert. Seit 2016 dürfen nun Schiffe der Neopanamax-Klasse mit bis zu 14.000 Standardcontainern hindurch. Konkurrenz könnte aus dem Norden kommen: In Nicaragua plant man El Gran Canal, den Großen Kanal. Die sandinistische Regierung Ortega will das Projekt unbedingt durchziehen, obwohl der Bau höchst umstritten ist.
Experten fürchten ein ökologisches Desaster: Der Kanal würde 400.000 Hektar Regenwald und Feuchtgebiete zerstören. Indigene Bevölkerungsgruppen haben schon dagegen geklagt. Ob der Große Kanal überhaupt gebaut wird, ist unklar. Nach dem offiziellen Spatenstich passierte bisher wenig. Und die in Hongkong ansässige Kanalgesellschaft schloss im Jahr 2018 ihre Büros. Wegen finanzieller Probleme.
Auch in Thailand überlegt man, einen Kanal zu bauen. Der läge am Isthmus von Kra im Süden des Landes, wo Andamanensee und Golf von Thailand nur 44 Kilometer Land trennen. Der Kra- oder Thai-Kanal würde den Schiffsverkehr in Asien weglenken von der Malakka-Straße, die zwischen Malaiischer Halbinsel und Sumatra hindurchführt. Diese begehrte Abkürzung nach Europa nehmen täglich rund 2000 Schiffe, 20 bis 25 Prozent des Seehandels, schätzt man, gehen durch die Malakka-Straße. Das wäre wohl nicht mehr so, würde der KraKanal eröffnet. Was aber auch nicht sehr wahrscheinlich ist. Zwar steht mit China der Geldgeber und Bauherr bereit, der den Kanal als Teil der Neuen Seidenstraße plant, dem gigantischen, Kontinente umspannenden Infrastrukturprojekt. Doch derzeit liegen die Pläne für den Thai-Kanal unter anderem wegen Umweltschutzbedenken auf Eis. So bleibt der Suezkanal wohl noch länger die wichtigste künstliche Wasserstraße.