Mut zur Lücke
Der Lehrling wollte im wahrsten Sinn des Wortes destruktiv sein – und scheiterte aus mehreren Gründen.
Der Lehrling lässt den Atem vor sich tanzen. Stoßweise. Weil er wieder einmal ein bisserl aufgeregt ist. Und weil es saukalt ist. Und feucht. Was wiederum Wasser spart. Aber das fängt jetzt völlig falsch an. Die Gedanken laufen halt etwas durcheinander, wenn man mit einem Vorschlaghammer vor einem Gründerzeithaus steht. Es wird nicht allzu lang dauern, dann klafft dort, wo seit 120 Jahren dieses Gemäuer trutzt, eine Lücke. Und es wird nach Ziegelstaub riechen. Bis dahin werden zwei, drei Wochen vergehen. Denn so lange dauert es in etwa, bis dieses Haus abgerissen ist. Bei manchen geht es schneller, bei anderen dauert es länger. Okay, genug geschwafelt, los geht’s. Der Chef hat gute Vorarbeit geleistet. Das heißt, er hat sich den Abbruchbescheid vom Magistrat besorgt, er ist mit dem Statiker noch einmal durch das Haus gewandert und hat sich umgesehen. Nebenwirkungen sollten tunlichst ausgeschlossen werden. Oder einkalkuliert. Nachbargebäude zum Beispiel dürfen von dem Abriss nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Das gilt vor allem in der Großstadt, wo Haus an Haus steht. Und er hat sich – weil er mit seiner Abbruchfirma auch Geld verdienen muss – mit dem Hauseigentümer auf einen Betrag geeinigt. Wie hoch der in diesem Fall ist, will er dem Lehrling nicht verraten. Eigentlich möchte er grundsätzlich nicht über Geld reden. Schon gar nicht im Moment. Die Gehsteige sind abgesperrt, der Eintritt in die alte Zinskaserne ist somit ein exklusiver. Stockwerk für Stockwerk erklimmt der Lehrling. Drei sind es insgesamt. Dann ist er auf dem Dach – seinem Arbeitsplatz. Der Kollege mit der Motorsäge geht voran. Als Lehrling mit Vorschlaghammer hält man sich fürs erste besser zurück. Einfach wild drauflos schlagen – keine gute Idee.
Zuerst fliegen die Späne. Und in den Geruch von altem Gehölz mischt sich Benzinduft. Helm, Schutzbrille. Sicherheitsgurt. Stück für Stück Holz saust über die Rutsche ins Tal, wo der Container steht. Der Chef sagt, wenn man nicht gleich an Ort und Stelle sortiert, gibt es beim Lagerplatz einen Aufstand. Die Fensterscheiben sind schon entfernt, Rahmen ausgebrochen. Denn so eine Scheibe im freien Fall Richtung Gehsteig und Fußgänger – Horrorvorstellung.
Der Lehrling darf auf einen alten Kamin hämmern. Ziegel und Verputz splittern, die
Schläge erschüttern mehr den Lehrling als den Kamin. Um ganz ehrlich zu sein: Viel geht nicht weiter. Aber das macht nichts. Denn die Motorsäge ist ohnehin das dominierende Gerät, zumindest wenn es um Holz geht. Und es geht um sehr viel Holz. Man möchte es gar nicht glauben.
Apropos glauben bzw. nicht glauben können: Der Chef ist ganz fassungslos, wie viele von den alten Häusern in den letzten Jahren verschwunden sind. Das habe übrigens nichts mit Baufälligkeit zu tun. Sondern schlicht mit Wirtschaftlichkeit. In so ein
Gründerzeithaus eine Garage einbauen? Viel Spaß. Außerdem gehe es vorrangig um die Gewinnung von Nutzfläche. Da sei ein Neubau ziemlich im Vorteil. Mit dem Denkmalamt müsse man vor einem Abbruch sowieso reden. Könnte nämlich sein, dass es Gründe gibt, um alles stehen zu lassen. Oder nur Teile. Wie Stiegengeländer, Fensterrahmen, Türen, Torbögen. Für so etwas ist der Chef auch Spezialist. Entkernen nennt man diese Methode, bei der das Haus auf Rohbauniveau zurückgestuft wird. Also ein wenig Zeitreisen mit Hammer und Stemmeisen.
So, Pause vorbei. Der Lehrling stümpert noch ein paar Minuten herum und kapituliert schließlich. Mit dem Ausdruck von Ehrfurcht und Respekt vor dem Abbruchgewerbe retourniert er den Vorschlaghammer. Noch mehr Schläge gegen den Kamin und auch das eigene Knochengerüst wäre abbruchreif gewesen. Hut ab vor Menschen, die das über viele Jahre hinweg betreiben. Bei Hitze, bei Kälte. Immer.
Ah ja, die Sache mit dem Wasser: Man benötigt stets einen Schlauchanschluss, denn der viele Staub soll sich nicht über die Gegend verteilen. Je mehr sich ein Haus also in einen Schutthaufen verwandelt, desto öfter wird dieser besprenkelt. Bei Gebäuden, die deutlich nach der Gründerzeit errichtet wurden und nicht nur aus Ziegel, Mörtel und Holz bestehen, komme in puncto Staub noch etwas dazu: nämlich die Gefahr. Denn viele Jahrzehnte lang galt das hochgiftige Asbest als allseits beliebter Dämmstoff.
Mit wackeligen Knien verlässt der Lehrling die Zinskaserne. Er wird einer der letzten sein, die das Stiegenhaus benutzen, sich am Geländer anhalten, beim Gangfenster in den trüben Herbst hinausblicken. Draußen wartet der Bagger, die riesige Schaufel bereit, sich in die Fassade zu krallen. Der Lehrling kann gar nicht anders, als einen Moment lang innezuhalten, um an all die vielen Menschen zu denken, die in diesem Haus gelebt haben; denen in ihren Mikrokosmen Wundervolles ebenso widerfahren ist wie Furchtbares. Weltkriege, Krisen und Aufschwünge hat es mitgemacht. Für Geburt, Tod, Gewalt und Liebe war es eine Herberge. Der Staub von Ziegel und Verputz riecht nach Abschied.