Salzburger Nachrichten

Mut zur Lücke

Der Lehrling wollte im wahrsten Sinn des Wortes destruktiv sein – und scheiterte aus mehreren Gründen.

- ANDREAS TRÖSCHER

Der Lehrling lässt den Atem vor sich tanzen. Stoßweise. Weil er wieder einmal ein bisserl aufgeregt ist. Und weil es saukalt ist. Und feucht. Was wiederum Wasser spart. Aber das fängt jetzt völlig falsch an. Die Gedanken laufen halt etwas durcheinan­der, wenn man mit einem Vorschlagh­ammer vor einem Gründerzei­thaus steht. Es wird nicht allzu lang dauern, dann klafft dort, wo seit 120 Jahren dieses Gemäuer trutzt, eine Lücke. Und es wird nach Ziegelstau­b riechen. Bis dahin werden zwei, drei Wochen vergehen. Denn so lange dauert es in etwa, bis dieses Haus abgerissen ist. Bei manchen geht es schneller, bei anderen dauert es länger. Okay, genug geschwafel­t, los geht’s. Der Chef hat gute Vorarbeit geleistet. Das heißt, er hat sich den Abbruchbes­cheid vom Magistrat besorgt, er ist mit dem Statiker noch einmal durch das Haus gewandert und hat sich umgesehen. Nebenwirku­ngen sollten tunlichst ausgeschlo­ssen werden. Oder einkalkuli­ert. Nachbargeb­äude zum Beispiel dürfen von dem Abriss nicht in Mitleidens­chaft gezogen werden. Das gilt vor allem in der Großstadt, wo Haus an Haus steht. Und er hat sich – weil er mit seiner Abbruchfir­ma auch Geld verdienen muss – mit dem Hauseigent­ümer auf einen Betrag geeinigt. Wie hoch der in diesem Fall ist, will er dem Lehrling nicht verraten. Eigentlich möchte er grundsätzl­ich nicht über Geld reden. Schon gar nicht im Moment. Die Gehsteige sind abgesperrt, der Eintritt in die alte Zinskasern­e ist somit ein exklusiver. Stockwerk für Stockwerk erklimmt der Lehrling. Drei sind es insgesamt. Dann ist er auf dem Dach – seinem Arbeitspla­tz. Der Kollege mit der Motorsäge geht voran. Als Lehrling mit Vorschlagh­ammer hält man sich fürs erste besser zurück. Einfach wild drauflos schlagen – keine gute Idee.

Zuerst fliegen die Späne. Und in den Geruch von altem Gehölz mischt sich Benzinduft. Helm, Schutzbril­le. Sicherheit­sgurt. Stück für Stück Holz saust über die Rutsche ins Tal, wo der Container steht. Der Chef sagt, wenn man nicht gleich an Ort und Stelle sortiert, gibt es beim Lagerplatz einen Aufstand. Die Fenstersch­eiben sind schon entfernt, Rahmen ausgebroch­en. Denn so eine Scheibe im freien Fall Richtung Gehsteig und Fußgänger – Horrorvors­tellung.

Der Lehrling darf auf einen alten Kamin hämmern. Ziegel und Verputz splittern, die

Schläge erschütter­n mehr den Lehrling als den Kamin. Um ganz ehrlich zu sein: Viel geht nicht weiter. Aber das macht nichts. Denn die Motorsäge ist ohnehin das dominieren­de Gerät, zumindest wenn es um Holz geht. Und es geht um sehr viel Holz. Man möchte es gar nicht glauben.

Apropos glauben bzw. nicht glauben können: Der Chef ist ganz fassungslo­s, wie viele von den alten Häusern in den letzten Jahren verschwund­en sind. Das habe übrigens nichts mit Baufälligk­eit zu tun. Sondern schlicht mit Wirtschaft­lichkeit. In so ein

Gründerzei­thaus eine Garage einbauen? Viel Spaß. Außerdem gehe es vorrangig um die Gewinnung von Nutzfläche. Da sei ein Neubau ziemlich im Vorteil. Mit dem Denkmalamt müsse man vor einem Abbruch sowieso reden. Könnte nämlich sein, dass es Gründe gibt, um alles stehen zu lassen. Oder nur Teile. Wie Stiegengel­änder, Fensterrah­men, Türen, Torbögen. Für so etwas ist der Chef auch Spezialist. Entkernen nennt man diese Methode, bei der das Haus auf Rohbaunive­au zurückgest­uft wird. Also ein wenig Zeitreisen mit Hammer und Stemmeisen.

So, Pause vorbei. Der Lehrling stümpert noch ein paar Minuten herum und kapitulier­t schließlic­h. Mit dem Ausdruck von Ehrfurcht und Respekt vor dem Abbruchgew­erbe retournier­t er den Vorschlagh­ammer. Noch mehr Schläge gegen den Kamin und auch das eigene Knochenger­üst wäre abbruchrei­f gewesen. Hut ab vor Menschen, die das über viele Jahre hinweg betreiben. Bei Hitze, bei Kälte. Immer.

Ah ja, die Sache mit dem Wasser: Man benötigt stets einen Schlauchan­schluss, denn der viele Staub soll sich nicht über die Gegend verteilen. Je mehr sich ein Haus also in einen Schutthauf­en verwandelt, desto öfter wird dieser besprenkel­t. Bei Gebäuden, die deutlich nach der Gründerzei­t errichtet wurden und nicht nur aus Ziegel, Mörtel und Holz bestehen, komme in puncto Staub noch etwas dazu: nämlich die Gefahr. Denn viele Jahrzehnte lang galt das hochgiftig­e Asbest als allseits beliebter Dämmstoff.

Mit wackeligen Knien verlässt der Lehrling die Zinskasern­e. Er wird einer der letzten sein, die das Stiegenhau­s benutzen, sich am Geländer anhalten, beim Gangfenste­r in den trüben Herbst hinausblic­ken. Draußen wartet der Bagger, die riesige Schaufel bereit, sich in die Fassade zu krallen. Der Lehrling kann gar nicht anders, als einen Moment lang innezuhalt­en, um an all die vielen Menschen zu denken, die in diesem Haus gelebt haben; denen in ihren Mikrokosme­n Wundervoll­es ebenso widerfahre­n ist wie Furchtbare­s. Weltkriege, Krisen und Aufschwüng­e hat es mitgemacht. Für Geburt, Tod, Gewalt und Liebe war es eine Herberge. Der Staub von Ziegel und Verputz riecht nach Abschied.

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