Fischbrötchen und mehr
Für wetterfeste Gäste sind Herbst und Winter hier köstlich belebend. Und wer Glück hat, findet einen Hühnergeist.
„Wer im Herbst nach Kühlungsborn kommt, geht auch bei strammer Brise spazieren“, sagt Klaus Schumacher. An diesem Novembertag ist im Ostseebad Kühlungsborn Regen vorhergesagt. Doch die stete und eben stramme Brise vertreibt die Wolken, es bleibt trocken. Der Fremdenführer erwartet uns auf der Promenade vor der 240 Meter langen Seebrücke, von deren Kopf sich ein wunderbarer Blick erschließt, zum Bootshafen, nach Kühlungsborn West und zum Küstenwald. Gut in Jacken, Schals und Hauben eingepackt, bummeln Einheimische und Gäste auf dieser Brücke oder wandern den rund sechs Kilometer langen Sandstrand entlang nach Westen. Andere schlendern durch den dahinter liegenden schmalen Küstenwald zur Ostsee-Allee. Strand wie auch Promenade zählen übrigens zu den längsten Deutschlands.
Kühlungsborn ist das größte Ostseebad in Deutschland und schmiegt sich in die Mecklenburger Bucht. Die rund 9000 Einwohner zählende Stadt entstand 1938 aus den drei eigenständigen Ostseebädern Ardensee (Kühlungsborn West), Brunshaupten (Kühlungsborn Ost) und Fulgen, die Stadtväter einigten sich auf den Namen Kühlungsborn. Markenzeichen der deutschen Ostseeküste ist ihre Bäderarchitektur. In ihr vereinen sich Baustile unterschiedlichster Richtungen aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Und so reihen sich die Hotels am Meeresstrand wie Perlen aneinander mit ihren charakteristischen Erkern, Türmen, Balustraden und Balkonen. Unbeeinträchtigt. „Kein Haus im Ort überrage den höchsten Baum im Stadtwald!“, entschieden laut Schumacher die Kühlungsborner gleich nach 1990.
Während in den Sommermonaten viele Gäste den kilometerlangen Sandstrand bevölkern, ist es im November herrlich ruhig. Um die Saison zu verlängern, initiierte Wolfgang Dirck, Hausherr in Wilhelms Restaurant, gemeinsam mit einigen Hoteliers vor 17 Jahren die Gourmettage „Kühlungsborn kocht“. Diese finden seither von November bis Dezember statt. Gekocht wird mit Zutaten aus einem gemeinsamen Warenkorb, der jedes Jahr mit unterschiedlichen Ingredienzien gefüllt ist. Im letzten Jahr waren das Linsen, Schlehen, Honig, Kalb und Krustentiere, heuer sind es Hering, MangalitzaSchwein, Ziegenmilch und Kaffee.
Die Spitzenköche machen daraus FünfGänge-Menüs und bieten darüber hinaus Workshops an wie „Stollen“und sogar „Vegan für Fortgeschrittene“oder gar einen Knigge-Einmaleins-Kurs. Trainerin Annett Brandt im Restaurant Orangerie im Hotel „IV Jahreszeiten“stellt gleich zu Beginn klar: „Das Proletenbesteck hat auf dem Tisch eines Restaurants nichts zu suchen.“Proletenbesteck? Brandt erklärt: „Das sind Handy, Schlüssel und Geldbörse.“Einige Gäste schmunzeln und lassen ihr Handy dezent verschwinden.
Passend zum nostalgischen Ambiente: Ein Höhepunkt schon im letzten Jahr war der Themenabend „Kann denn Genießen Sünde sein? – Speisen wie in den 1920erJahren“in Wilhelms Restaurant. Hausherr Wolfgang Dirck erklärt, wie es zu diesem Titel kam: „Ich fragte vor 17 Jahren eine befreundete Lehrerin, ob sie mit ihrer Schulklasse ein Motto für die Gourmettage finden könne.“Sie konnten. Das Motto ist seither gleich geblieben. Dirck hat sogar das Ambiente des Restaurants dem Stil der 1920erJahre angepasst. So stammt der über 100 Jahre alte Holzfußboden aus einem englischen Schloss, ebenso wie die Jugendstilleuchten. Kellnerinnen und Kellner servieren im 1920er-Outfit.
Da die Küche zum Restaurant hin offen ist, können die flinken Köche bei ihrer Arbeit gut beobachtet werden. Die Köstlichkeiten der Restaurants verleiten jedoch zum Schlemmen. Wie gut, dass der kalte Ostseewind und ein Morgenspaziergang entlang von Sandstrand und Promenade die Kalorien nur so purzeln lassen.
Die steife Brise beeindruckt auch das Grüppchen nicht, das aus dem Küstenwäldchen auftaucht, zum Strand spaziert und ihre Bademäntel auszieht. Nackt springen die Frauen und Männer in die Ostsee. Nicht ganz geräuschlos. „Puh, ist das kalt!“Danach waten sie durchs seichte Wasser zurück und ziehen gut gelaunt ihre Bademäntel wieder an. „Meine Mutter schwimmt seit Jahren jeden Tag in der Ostsee. Sie schwört auf dieses gesunde Bad“, sagt Katja vom Tourismusbüro in Kühlungsborn. Den Höhepunkt für diese Kneippkur bildet das Neujahrs-Anschwimmen am 1. Jänner. Da tummeln sich ein paar Hundert Menschen – nicht nackt, sondern in gestreiften Retro-Badekostümen – in den eisig-kalten Fluten. Katja schmunzelt, sie sieht dem bunten Treiben lieber zu: „Ich schwimme nicht. Ich fotografiere.“
Am Nachmittag lassen einige Einheimische gekonnt ihre Drachen steigen. Manche der Kinder und ihre Eltern suchen nach „Hühnergeistern“. Die 35-jährige Anja aus dem nahen Brandenburg hat einen gefunden. Sie strahlt und erklärt stolz: „Er bringt Glück. Ein Hühnergeist ist ein schwarzer, flacher Stein mit einem weißen Muster und einem Loch. Wir verbrachten als Kinder oft unseren Urlaub in Kühlungsborn und haben stundenlang diese Steine gesammelt.“Und wirklich, bei genauerem Hinsehen hat der Stein ein Loch und mit Fantasie zeigt ein Geist sein Gesicht. Auch wir haben Glück. Der Wind hat die Wolken weggeschoben und für kurze Zeit strahlen Sonne und blauer Himmel miteinander um die Wette.