Gibt es noch einen Weg aus der Krise?
Neue Stufe der Gewalt in Hongkong: Demonstranten werfen mit Brandsätzen – und die Polizei geht hart gegen sie vor.
HONGKONG. Feuer lodert in den nächtlichen Himmel über Hongkong. Die Polytechnische Universität, ein Flammenmeer. Auch ein Mannschaftswagen der Polizei brennt, von einem Brandsatz getroffen. „Wenn wir brennen, brennt ihr mit uns“, zitieren Hongkonger Demonstranten aus der ScienceFiction-Filmreihe „Die Tribute von Panem“. Ein Kampf des Guten gegen das Böse? Ist es so einfach?
Montag früh gleicht die Universität einem Schlachtfeld. Verteidigt mit Brandsätzen, selbst gebastelten Katapulten, Pfeil und Bogen. Obwohl einige fliehen können, sitzen noch Hunderte junge Leute auf dem Gelände fest. Die Polizei hat einen Belagerungsring um die Hochschule gezogen, will jeden festnehmen, der rauskommt.
An einer Polizeiabsperrung im Stadtviertel Tsim Sha Tsui haben sich Eltern versammelt. Unter Tränen bitten sie die Polizisten, den jungen Leuten in der Hochschule zu erlauben, rauszukommen. Eine Mutter fällt weinend auf die Knie. Ihre Tochter sei auf dem Campus. „Ich bin besorgt. Als Elternteil fühle ich mich hilflos“, sagt sie einem öffentlichen Rundfunksender.
Unter den Studenten soll es Verletzte geben. Die Vorräte würden knapp, heißt es. Noch am Vorabend hatten die Sicherheitskräfte den Studenten ein Ultimatum bis 22
Uhr gesetzt, um das Gelände durch einen vorgegebenen Ausgang zu verlassen. Kurz danach setzte die Polizei Tränengas ein. Es kam zu Zusammenstößen. Die Demonstranten errichteten Barrikaden, legten Brände. Im Morgengrauen unternahm die Polizei einen neuen Versuch, auf das Gelände vorzudringen. Die Aktivisten entzündeten wieder ein großes Feuer, um die Uniformierten abzuwehren.
Die Polizei bestreitet, das Gelände „gestürmt“zu haben. Es ist vielmehr von einem anhaltenden Einsatz die Rede, um Demonstrationen aufzulösen und Festnahmen zu ermöglichen. „Aufrührer, die sich auf dem Gelände versammelt haben, legten Feuer und richteten schwere Schäden an“, teilte die Polizei mit.
Die Hochschulen der chinesischen Sonderverwaltungsregion sind die Brennpunkte der seit fünf Monaten anhaltenden Proteste. Vorzeitig wurden die Semester beendet und die Studenten in die Ferien geschickt. Der Unmut im Volk ist groß – ebenso wie die Unterstützung für die jungen Leute. Jetzt wird nicht nur am Wochenende protestiert, sondern auch unter der Woche – selbst in der Mittagspause.
Eigentlich sollen am Sonntag neue Bezirksräte gewählt werden. Nun aber denkt die Regierung laut darüber nach, die Abstimmung zu verschieben – und nährt damit nur den Verdacht des demokratischen Lagers, dass Wahlen bei den Reichen und Mächtigen des asiatischen Wirtschafts- und Finanzzentrums ohnehin unerwünscht sind.
Zuvor wurde der Vorwurf der Manipulation laut, als Joshua Wong, ein Wortführer der Demokratiebewegung, als Kandidat disqualifiziert wurde. Der Grund: Wong streitet für die „Selbstbestimmung“des autonom regierten Hongkongs. Daher habe er auch Bestrebungen, die Unabhängigkeit der früheren britischen Kronkolonie zu unterstützen – so lasten es ihm die Behörden an. So jemand dürfe nicht zur Wahl antreten – trotz oder gerade wegen des Grundsatzes „ein Land, zwei Systeme“, nach dem Hongkong regiert wird. Da die Regierung massiv in der Kritik steht, liegen ohnehin prodemokratische Kandidaten vorn. Die Opposition argwöhnt, dass die Regierung mit einer Verschiebung eine Niederlage verhindern will.
In der größten Krise Hongkongs wirkt die von Peking handverlesene Regierung handlungsunfähig. Ein Gericht hob am Montag auch das Vermummungsverbot auf, das Regierungschefin Carrie Lam verhängt hatte. Dabei raten selbst chinafreundliche, gemäßigte Politiker zu Zugeständnissen – wie etwa der geforderten Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung brutaler Polizeigewalt bei den Protesten.
Zeichneten sich frühere chinesische Führer wie Deng Xiaoping, der die Rückgabe Hongkongs mit den Briten ausgehandelt hatte, durch Pragmatismus aus, steuert der heutige „starke Mann“Xi Jinping einen harten Kurs. Es gebe „keinen Platz für Kompromisse“, schreibt das kommunistische Parteiorgan „Volkszeitung“in Peking.
„Wir stehen vor einem Kampf zwischen dem Schutz von ,ein Land, zwei Systeme‘ und seiner Zerstörung“, schreibt das Parteiblatt. Dabei betont Peking vor allem das Prinzip „ein Land“– weniger die bürgerlichen Freiheiten und rechtsstaatlichen Garantien, die der Grundsatz „zwei Systeme“den Hongkongern verspricht.
„Mit rein friedlichem Protest werden wir unser Ziel nicht erreichen.“Joshua Wong, Demokratie-Aktivist