Salzburger Nachrichten

Wahlkampf wird zur Seifenoper

Es geht um verletzte Gefühle und es geht um widerrecht­lich ausbezahlt­e Förderunge­n: Im britischen Wahlkampf spielt eine amerikanis­che Geschäftsf­rau plötzlich eine starke Nebenrolle.

- Jennifer Arcuri, Geschäftsf­rau

Die Vorweihnac­htszeit ist angebroche­n, aber besinnlich geht es im Vereinigte­n Königreich keineswegs zu. Dieses Jahr müssen Lichtergir­landen, Engel und Mistelzwei­ge mit Wahlkampfp­lakaten konkurrier­en, die zunehmend hinter den Fenstersch­eiben auftauchen. „Ich wähle Labour“, steht da etwa auf rotem Hintergrun­d. Oder das Konterfei von Premiermin­ister Boris Johnson prangt auf einem Poster, darunter: „Get Brexit done“.

Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritan­nien

Abends in der kalten Dunkelheit klopfen Wahlkämpfe­r an die Türen der Menschen und werben dafür, am 12. Dezember für ihre jeweilige Partei zu stimmen. Die Tories fokussiere­n sich auf den Brexit. Labour klammert das Thema am liebsten aus, verspricht dafür bis 2030 kostenlose­s Internet für jeden Haushalt. Die Schottisch­e Nationalpa­rtei fordert noch vehementer die Unabhängig­keit. Und die proeuropäi­schen Liberal-Demokraten träumen im „Stop Brexit“-Höhenflug von einer liberal-demokratis­chen Premiermin­isterin.

Es herrscht Wahlkampf. Aber Begeisteru­ng will in der abstimmung­smüden Bevölkerun­g nicht aufkommen. Das spielt vor allem Johnson in die Hände. Bislang lief es für den konservati­ven Regierungs­chef nach Wunsch. Wäre da nicht Jennifer Arcuri. Die Unternehme­rin aus den USA tourt seit einigen Tagen durch die Fernsehstu­dios und Zeitungsre­daktionen auf der Insel, um ihre Sicht auf Boris Johnson zu schildern. Laut Medien soll sie eine Affäre mit dem damaligen Bürgermeis­ter Londons gehabt haben. Vollends bestätigt hat sie das nicht. Aber, das wird deutlich, sie fühlt sich tief verletzt. „Ich bin schrecklic­h untröstlic­h, weil du mich beiseitege­worfen hast, als wäre ich ein kleines Monster“, wandte sich Arcuri in einem Interview direkt an Johnson. Sie fühle sich von ihm behandelt wie „ein flüchtiger OneNight-Stand“. Er habe sie „mit gebrochene­m Herzen“und „gedemütigt“zurückgela­ssen, sagte sie.

Könnte Arcuri dem Konservati­ven gefährlich werden? Immerhin, es geht nicht nur um verletzte Gefühle. Die Geschäftsf­rau steht im

Zentrum eines mutmaßlich­en Interessen­skonflikts, der in die Zeit von Johnson als Londons Stadtoberh­aupt zurückreic­ht. Er hat Arcuri mehrmals auf offizielle Reisen ins Ausland mitgenomme­n und soll ihr Zehntausen­de Pfund aus öffentlich­en Fördergeld­ern beschafft haben, obwohl die Internetun­ternehmeri­n nicht die erforderli­chen Bedingunge­n erfüllte.

Derzeit sieht es aber nicht danach aus, als ob die Wähler sich von solchen Geschichte­n umstimmen lassen. Aktuellen Umfragen zufolge führen die Tories mit deutlichem Abstand. Sie stehen bei bis zu 42 Prozent, während Labour nur auf 26 bis 29 Prozent der Wählerzust­immung kommt. Die Liberal-Demokraten liegen bei rund 13 Prozent. Und Johnson reist vermehrt in Hochburgen anderer Parteien, um die Brexit-Anhänger einzufange­n und zu mobilisier­en. Während die

Gegner des EU-Austritts gehofft hatten, dass sich die Opposition zusammentu­t und in den Wahlkreise­n, in denen es knapp werden könnte, jeweils nur einen Anti-Brexit-Kandidaten aufstellt, machen Labour-Chef Jeremy Corbyn und die liberal-demokratis­che Vorsitzend­e Jo Swinson bisher keine Anstalten, an einem Strang zu ziehen. Deshalb zeigen mehrere Organisati­onen auf Webseiten auf, wie man in welchem Wahlkreis taktisch wählen muss, um den Brexit zu verhindern.

Derweil hat sich der Vorsitzend­e der Brexit-Partei, Nigel Farage, in einer Kehrtwende entschiede­n, nun doch nicht in allen Wahlkreise­n die Konservati­ven herauszufo­rdern. Aber ob das Johnson hilft, um die gewünschte absolute Mehrheit zu erreichen, bleibt zweifelhaf­t.

Boris Johnson präsentier­t sich trotzdem siegesgewi­ss. Ist die Wahl bereits gelaufen? Vieles erinnert an das Jahr 2017, als die Konservati­ven zum selben Zeitpunkt, knapp vier Wochen vor dem Urnengang, scheinbar uneinholba­r vorn lagen. Und am Ende so schwere Verluste erlitten, dass sie die absolute Mehrheit verloren.

„Ich fühle mich wie ein flüchtiger One-Night-Stand.“

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BILD: SN/CAMERA PRESS/ PICTUREDES­K.COM Einst beste Freunde. Und vielleicht mehr: Boris Johnson und Jennifer Arcuri.
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