Wahlkampf wird zur Seifenoper
Es geht um verletzte Gefühle und es geht um widerrechtlich ausbezahlte Förderungen: Im britischen Wahlkampf spielt eine amerikanische Geschäftsfrau plötzlich eine starke Nebenrolle.
Die Vorweihnachtszeit ist angebrochen, aber besinnlich geht es im Vereinigten Königreich keineswegs zu. Dieses Jahr müssen Lichtergirlanden, Engel und Mistelzweige mit Wahlkampfplakaten konkurrieren, die zunehmend hinter den Fensterscheiben auftauchen. „Ich wähle Labour“, steht da etwa auf rotem Hintergrund. Oder das Konterfei von Premierminister Boris Johnson prangt auf einem Poster, darunter: „Get Brexit done“.
Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritannien
Abends in der kalten Dunkelheit klopfen Wahlkämpfer an die Türen der Menschen und werben dafür, am 12. Dezember für ihre jeweilige Partei zu stimmen. Die Tories fokussieren sich auf den Brexit. Labour klammert das Thema am liebsten aus, verspricht dafür bis 2030 kostenloses Internet für jeden Haushalt. Die Schottische Nationalpartei fordert noch vehementer die Unabhängigkeit. Und die proeuropäischen Liberal-Demokraten träumen im „Stop Brexit“-Höhenflug von einer liberal-demokratischen Premierministerin.
Es herrscht Wahlkampf. Aber Begeisterung will in der abstimmungsmüden Bevölkerung nicht aufkommen. Das spielt vor allem Johnson in die Hände. Bislang lief es für den konservativen Regierungschef nach Wunsch. Wäre da nicht Jennifer Arcuri. Die Unternehmerin aus den USA tourt seit einigen Tagen durch die Fernsehstudios und Zeitungsredaktionen auf der Insel, um ihre Sicht auf Boris Johnson zu schildern. Laut Medien soll sie eine Affäre mit dem damaligen Bürgermeister Londons gehabt haben. Vollends bestätigt hat sie das nicht. Aber, das wird deutlich, sie fühlt sich tief verletzt. „Ich bin schrecklich untröstlich, weil du mich beiseitegeworfen hast, als wäre ich ein kleines Monster“, wandte sich Arcuri in einem Interview direkt an Johnson. Sie fühle sich von ihm behandelt wie „ein flüchtiger OneNight-Stand“. Er habe sie „mit gebrochenem Herzen“und „gedemütigt“zurückgelassen, sagte sie.
Könnte Arcuri dem Konservativen gefährlich werden? Immerhin, es geht nicht nur um verletzte Gefühle. Die Geschäftsfrau steht im
Zentrum eines mutmaßlichen Interessenskonflikts, der in die Zeit von Johnson als Londons Stadtoberhaupt zurückreicht. Er hat Arcuri mehrmals auf offizielle Reisen ins Ausland mitgenommen und soll ihr Zehntausende Pfund aus öffentlichen Fördergeldern beschafft haben, obwohl die Internetunternehmerin nicht die erforderlichen Bedingungen erfüllte.
Derzeit sieht es aber nicht danach aus, als ob die Wähler sich von solchen Geschichten umstimmen lassen. Aktuellen Umfragen zufolge führen die Tories mit deutlichem Abstand. Sie stehen bei bis zu 42 Prozent, während Labour nur auf 26 bis 29 Prozent der Wählerzustimmung kommt. Die Liberal-Demokraten liegen bei rund 13 Prozent. Und Johnson reist vermehrt in Hochburgen anderer Parteien, um die Brexit-Anhänger einzufangen und zu mobilisieren. Während die
Gegner des EU-Austritts gehofft hatten, dass sich die Opposition zusammentut und in den Wahlkreisen, in denen es knapp werden könnte, jeweils nur einen Anti-Brexit-Kandidaten aufstellt, machen Labour-Chef Jeremy Corbyn und die liberal-demokratische Vorsitzende Jo Swinson bisher keine Anstalten, an einem Strang zu ziehen. Deshalb zeigen mehrere Organisationen auf Webseiten auf, wie man in welchem Wahlkreis taktisch wählen muss, um den Brexit zu verhindern.
Derweil hat sich der Vorsitzende der Brexit-Partei, Nigel Farage, in einer Kehrtwende entschieden, nun doch nicht in allen Wahlkreisen die Konservativen herauszufordern. Aber ob das Johnson hilft, um die gewünschte absolute Mehrheit zu erreichen, bleibt zweifelhaft.
Boris Johnson präsentiert sich trotzdem siegesgewiss. Ist die Wahl bereits gelaufen? Vieles erinnert an das Jahr 2017, als die Konservativen zum selben Zeitpunkt, knapp vier Wochen vor dem Urnengang, scheinbar uneinholbar vorn lagen. Und am Ende so schwere Verluste erlitten, dass sie die absolute Mehrheit verloren.
„Ich fühle mich wie ein flüchtiger One-Night-Stand.“