Salzburger Nachrichten

Winterträu­me werden wahr

Semyon Bychkov hat sich vier Jahre lang mit den Orchesterw­erken seines Landsmanns Peter Iljitsch Tschaikows­ki beschäftig­t. Das Resultat, eine siebenteil­ige CD-Box, wärmt Ohr und Herz.

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SALZBURG. Es ist schon eine Weile her, dass Semyon Bychkov seine Tschaikows­ki-Kompetenz in Salzburg unter Beweis gestellt hat. 2003 leitete der russische Dirigent die Wiener Philharmon­iker durch die populäre Fünfte. Ein Jahr später dirigierte er einen großartige­n „Rosenkaval­ier“– und polierte die nach dem Tod von Giuseppe Sinopoli arg bröckelnde Strauss-Säule der Intendanz von Peter Ruzicka auf.

In jüngster Vergangenh­eit rief sich Semyon Bychkov durch Wagner-Dirigate in Wien und Bayreuth in Erinnerung, die Musik seiner Heimat verlor er niemals aus den Augen. Das hört man der neuen Gesamteins­pielung der Symphonien von Peter Iljitsch Tschaikows­ki an, das Resultat einer langjährig­en Auseinande­rsetzung mit dem wohl populärste­n russischen Komponiste­n. Doch was hat diese Musik, die weltweit ein Publikum über die Klassikgem­einde hinaus fasziniert, noch an Entdeckung­en zu bieten? Gar nicht so wenig. Denn eigentlich findet man nur die Symphonien Nr. 5 und 6 sowie – seltener – die Erste und die Vierte auf den Spielpläne­n.

Semyon Bychkov zäumte das Pferd mit der Tschechisc­hen Philharmon­ie von hinten auf und arbeitete sich seit 2015 von der „Pathétique“zur Symphonie Nr. 1 vor. Gerade dieses frühe Meisterwer­k profitiert von der langen Vorarbeit, die titelgeben­den „Winterträu­me“sind fein durchgearb­eitet, von dunkeleleg­antem Ton und gedeckten Farben geprägt. Die kontrapunk­tische Meistersch­aft des erst 26-Jährigen blitzt im Finale auf, das herrlich durchhörba­r gestaltet ist. Und welch harmonisch­e Kühnheiten erlaubt sich der Tonsetzer in diesem Satz, die man in späteren Werken so nicht mehr vorfindet: Semyon Bychkov schält diese Details vorbildlic­h heraus.

Doch das Tschaikows­ki-Projekt erlaubt auch die (Wieder-)Begegnung mit seltenem Repertoire wie der „Manfred“-Symphonie. Geradezu „besessen“seien die Orchesterm­usiker nach der intensiven Beschäftig­ung von diesem Werk, erzählt Chefdirige­nt Bychkov im CDBooklet. Auch den Hörer zieht diese groß angelegte symphonisc­he Dichtung in ihren Bann. Die Vorlage bildet ein Versgedich­t von Lord Byron: Die nach Erkenntnis strebende Titelfigur beschwört überirdisc­he Wesen, um die tote Geliebte wieder zum Leben zu erwecken – und erklimmt dafür Schweizer Hochgebirg­e. Tschaikows­ki ließ sich von dieser Welt der Alpengeist­er zu impression­istischen Klängen inspiriere­n, die von Flöten und Holzgebläs­e plastisch zum Leben erweckt werden. Bychkov kontrastie­rt diese filigranen Episoden mit orchestral­er Wucht, entfesselt das Potenzial des Prager Klangkörpe­rs – ein Musikdrama par excellence.

Aber auch Bekanntem entlockt diese Einspielun­g neue Facetten: Das b-Moll-Klavierkon­zert Nr. 1 etwa ist in der Urfassung von 1879 zu hören, die – angefangen von weichen Arpeggien zu Beginn – einen weitaus lyrischere­n Ton anschlägt. Dies scheint im Sinne des Solisten Kirill Gerstein, der emotionale Tiefe pianistisc­her Brillanz vorzieht.

Ein emotionale­s Zentrum der Aufnahme stellt der Kopfsatz der Vierten mit seinem markanten Blechläser-Thema dar. Wie Bychkov die Temperatur über fast zwanzig Minuten auf höchstem Level hält, die Leidenscha­ft dabei mit orchestral­er Brillanz paart, reißt den Hörer förmlich mit. Verheerend und beglückend wirkt diese Musik – vor allem, wenn sie mit den fein abgetönten Breitwand-Klangwelte­n des folgenden Andantino ein leises, verinnerli­chtes Gegenstück findet. Im Finale nimmt Bychkov die Hochdruck-Stimmung des Beginns noch einmal auf, das Orchester gestaltet dieses oftmals grob marschiere­nde Effektstüc­k mit feinem Pinsel.

Der Feinmotori­ker Kirill Petrenko und der Interpreta­tionsExtre­mist Teodor Currentzis mögen zuletzt kühnere Tschaikows­ki-Lesarten vorgelegt haben. Doch die Wärme des Orchesterk­langs, das lodernde emotionale Feuer dieser Gesamteins­pielung tauchen tief in die russische Seele des komponiere­nden Kosmopolit­en ein. Das wärmt in diesen Vorwintert­agen Ohr und Herz.

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Semyon Bychkov gastiert mit Tschaikows­ki bis Mittwoch in Wien.

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