Eintritt ins Stadium der Anbetung Ein Mädchen als Reinkarnation von Jesus
Ein Mädchen, das Wunder vollbringt, ein Erzähler als Evangelist: Autor Martin Walser setzt seine Hinwendung zum Spirituellen fort.
SALZBURG. Die Liebe Martin Walsers zu Frauen ist grenzenlos. Dabei haben uns bei einem Schriftsteller nicht seine persönlichen Beziehungen zu kümmern, sondern wie er uns in seinen Büchern zeigt, was die Spannung zwischen den Geschlechtern ausmacht.
Überhöhung war oft ein Mittel, seiner Verehrung Ausdruck zu verleihen, sodass er nicht von realen Menschen sprechen musste, sondern Wunschbilder und Fantasiegestalten an Schönheit und Barmherzigkeit in die Welt setzte. Sie waren nie nur reine Ikonen der Fleischlichkeit, er machte sie zu Wesen, die wie aus einer anderen Welt auf die Erde herabgesunken schienen.
Von den Fünfzigerjahren bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts schrieb Walser seine Romane entlang der deutschen Zeitgeschichte. Er war der Chronist der Bundesrepublik, der sich die Gesellschaft in all ihrer Eitelkeit und ihrem Fortschrittsstreben bis zum allfälligen Niedergang vornahm. Mit der Waffe der Ironie machte er hinter der großmächtigen Fassade der Bürgerlichkeit die Spießer ausfindig. Seine Eigenart war heiter-böse Zeitkritik.
Sein Alterswerk hat eine unerwartete Wende zum Spirituellen und Religiösen genommen. Früher hätte er verhöhnt, was er heute unternimmt, aber das macht den Charakter eines Werks aus, dass die ersten und letzten Bücher wie von einem anderen Menschen verfasst aussehen. Walsers jüngste Veröffentlichung „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“, eine schmale Legende, führt zwei für ihn so wichtige Motive wie Frau und Religion zusammen, um noch einmal etwas ganz anderes auszuprobieren.
Im Mittelpunkt steht das Mädchen Sirte, für das Religion zum
Ernstfall wird. Zwei Mal ist sie abgehauen, um in ein Kloster aufgenommen zu werden, jedes Mal scheitert sie aus Gründen ihres geringen Alters. In jedem Fall ist sie eine hellwache Person, für die der Erzähler, der sich im Hause des Immobilienhändlers Ludwig Zürn eingemietet hat, außerordentliche Zuneigung aufbringt.
Nein, keine Rede von Missbrauch, er ist eine Art Berater in spirituellen Angelegenheiten, der alles daransetzt, um auf Drängen ihres Vaters Sirte heiligsprechen zu lassen. Ein Zauber geht aus von ihr, dem alle erliegen. Und der Erzähler übernimmt die Rolle des Evangelisten, um die Taten und die Wirkung von Sirte festzuhalten. Er hat einen Narren gefressen an ihr, macht sich zum Diener einer großen Idee, ihm genügt es, „der zu sein, der zu Sirte führt“. Lukas oder Matthäus unternehmen auch nichts anderes. Der frühere Walser war der Chronist des Lächerlichen, der jetzige ist der Chronist des Erhabenen.
Sirte wird tatsächlich als eine Art Reinkarnation von Jesus eingeführt. Freiwillig nimmt sie Schmerzen auf sich und bewirkt auch noch ein Wunder. Sie geht mit einer Parkbank-Bekanntschaft in deren Wohnung mit, wo der Mann bereits lauert. Er hat es sich zur Angewohnheit gemacht, seine Frau, besoffen wir er nun einmal ist, regelmäßig mit einer Peitsche zu malträtieren. Tag für Tag nimmt Sirte dieses Martyrium anstelle der Frau auf sich, und dann geschieht das Unglaubliche: Der Prügler hört von einem Tag auf den anderen mit Schlagen und Trinken auf. Sein Kommentar: „Warum noch Alkohol, wenn so etwas möglich ist.“Bibelfest das Resümee von Sirte: „Es ist vollbracht.“Das Wunderbare, das seit Walsers spiritueller Phase Einzug in seine Literatur gehalten hat, wird nun in extremer Ausdeutung eingesetzt.
Sirte selbst schreibt auch, verwirrende Rätselsätze zumal, die man gut weiterreichen kann, um sich an ihrem Sinn abzuarbeiten. „Hat die Freude schönere Töne als der Schmerz?“, notiert sie einmal.
In Walsers Tagebüchern aus den Sechzigerjahren finden sich schon erste Aufzeichnungen zur Person Sirte. Lang wusste Walser nichts damit anzufangen, jetzt hat er eine Heiligenvita daraus geformt. Bei Martin Walser weiß man nie, wie er weitermacht.