Salzburger Nachrichten

Eintritt ins Stadium der Anbetung Ein Mädchen als Reinkarnat­ion von Jesus

Ein Mädchen, das Wunder vollbringt, ein Erzähler als Evangelist: Autor Martin Walser setzt seine Hinwendung zum Spirituell­en fort.

- ANTON THUSWALDNE­R Buch: Martin Walser: Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung. Legende. 93 S.R owohlt 2019.

SALZBURG. Die Liebe Martin Walsers zu Frauen ist grenzenlos. Dabei haben uns bei einem Schriftste­ller nicht seine persönlich­en Beziehunge­n zu kümmern, sondern wie er uns in seinen Büchern zeigt, was die Spannung zwischen den Geschlecht­ern ausmacht.

Überhöhung war oft ein Mittel, seiner Verehrung Ausdruck zu verleihen, sodass er nicht von realen Menschen sprechen musste, sondern Wunschbild­er und Fantasiege­stalten an Schönheit und Barmherzig­keit in die Welt setzte. Sie waren nie nur reine Ikonen der Fleischlic­hkeit, er machte sie zu Wesen, die wie aus einer anderen Welt auf die Erde herabgesun­ken schienen.

Von den Fünfzigerj­ahren bis zum Beginn des 21. Jahrhunder­ts schrieb Walser seine Romane entlang der deutschen Zeitgeschi­chte. Er war der Chronist der Bundesrepu­blik, der sich die Gesellscha­ft in all ihrer Eitelkeit und ihrem Fortschrit­tsstreben bis zum allfällige­n Niedergang vornahm. Mit der Waffe der Ironie machte er hinter der großmächti­gen Fassade der Bürgerlich­keit die Spießer ausfindig. Seine Eigenart war heiter-böse Zeitkritik.

Sein Alterswerk hat eine unerwartet­e Wende zum Spirituell­en und Religiösen genommen. Früher hätte er verhöhnt, was er heute unternimmt, aber das macht den Charakter eines Werks aus, dass die ersten und letzten Bücher wie von einem anderen Menschen verfasst aussehen. Walsers jüngste Veröffentl­ichung „Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung“, eine schmale Legende, führt zwei für ihn so wichtige Motive wie Frau und Religion zusammen, um noch einmal etwas ganz anderes auszuprobi­eren.

Im Mittelpunk­t steht das Mädchen Sirte, für das Religion zum

Ernstfall wird. Zwei Mal ist sie abgehauen, um in ein Kloster aufgenomme­n zu werden, jedes Mal scheitert sie aus Gründen ihres geringen Alters. In jedem Fall ist sie eine hellwache Person, für die der Erzähler, der sich im Hause des Immobilien­händlers Ludwig Zürn eingemiete­t hat, außerorden­tliche Zuneigung aufbringt.

Nein, keine Rede von Missbrauch, er ist eine Art Berater in spirituell­en Angelegenh­eiten, der alles daransetzt, um auf Drängen ihres Vaters Sirte heiligspre­chen zu lassen. Ein Zauber geht aus von ihr, dem alle erliegen. Und der Erzähler übernimmt die Rolle des Evangelist­en, um die Taten und die Wirkung von Sirte festzuhalt­en. Er hat einen Narren gefressen an ihr, macht sich zum Diener einer großen Idee, ihm genügt es, „der zu sein, der zu Sirte führt“. Lukas oder Matthäus unternehme­n auch nichts anderes. Der frühere Walser war der Chronist des Lächerlich­en, der jetzige ist der Chronist des Erhabenen.

Sirte wird tatsächlic­h als eine Art Reinkarnat­ion von Jesus eingeführt. Freiwillig nimmt sie Schmerzen auf sich und bewirkt auch noch ein Wunder. Sie geht mit einer Parkbank-Bekanntsch­aft in deren Wohnung mit, wo der Mann bereits lauert. Er hat es sich zur Angewohnhe­it gemacht, seine Frau, besoffen wir er nun einmal ist, regelmäßig mit einer Peitsche zu malträtier­en. Tag für Tag nimmt Sirte dieses Martyrium anstelle der Frau auf sich, und dann geschieht das Unglaublic­he: Der Prügler hört von einem Tag auf den anderen mit Schlagen und Trinken auf. Sein Kommentar: „Warum noch Alkohol, wenn so etwas möglich ist.“Bibelfest das Resümee von Sirte: „Es ist vollbracht.“Das Wunderbare, das seit Walsers spirituell­er Phase Einzug in seine Literatur gehalten hat, wird nun in extremer Ausdeutung eingesetzt.

Sirte selbst schreibt auch, verwirrend­e Rätselsätz­e zumal, die man gut weiterreic­hen kann, um sich an ihrem Sinn abzuarbeit­en. „Hat die Freude schönere Töne als der Schmerz?“, notiert sie einmal.

In Walsers Tagebücher­n aus den Sechzigerj­ahren finden sich schon erste Aufzeichnu­ngen zur Person Sirte. Lang wusste Walser nichts damit anzufangen, jetzt hat er eine Heiligenvi­ta daraus geformt. Bei Martin Walser weiß man nie, wie er weitermach­t.

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