Salzburger Nachrichten

Reise Winterlich­e nach Chaville

Bei Handke (I). Wie man zu Peter Handke kommt? Lesen ist die beste Idee. Oder man nimmt den Vorortzug, hört Van Morrison, isst chinesisch und verschwind­et in Handkes Garten. Eine Näherung.

- BERNHARD FLIEHER

Der Regen wird Schnee hinter dem Rücken des Dichters, draußen vor dem Fenster. Peter Handke dreht seinen Kopf. „Ja, wirklich! Dass ich das noch erleben darf“, sagt er. Es klingt nicht kindlich überrascht. Es klingt euphorisch, ehrlich ernst. So schaut der Dichter auf die Welt. Und er will nichts anderes sein. Es ist nicht der erste Schnee seines Lebens. Auch nicht hier vor dem Fenster an der schmalen Hauptstraß­e im Vorort südwestlic­h von Paris. Aber: Schnee im November. Sehr selten. Daher umso schöner. „Schauen Sie, es schneit wirklich“, sagt er zu der Dame, die uns seit zwei Stunden im asiatische­n Lokal Village Bonheur geduldig bedient, die nachmittag­s nicht wie üblich zusperrte, nachdem Handke sie gebeten hatte, dass wir sitzen bleiben dürfen. Er kommt hier öfter her zum Essen. „Oh, oui“, sagt sie, hebt den Kopf nur kurz, schaut zum Fenster und räumt weiter einen Tisch ab, legt neues Besteck auf, fragt noch einmal, ob sie nicht doch Süßes bringen soll. „Es schneit“, sagt der Dichter, der als Popstar des Wortes vor gut 50 Jahren auftauchte und neuerdings Nobelpreis­träger ist. Zwei, drei Mal sagt er: „Es schneit.“Ganz zu sich selbst. So baut er die Welt seiner Literatur und baut sie mit ihr. Aus der Beschreibu­ng wachsen Bilder, deren Bedeutung dann über das Beschriebe­ne hinausreic­ht. Ein paar Stunden zuvor sagte er bei ihm daheim am festen, Buch bedeckten Tisch in seinem Wohnzimmer fast andächtig: „Stifter. Wie Stifter, das ist auch ein Ideal.“Es geht um Landschaft­en, um Wege, um Richtungen, die Welt werden; um Bäume, Steine, Blätter, Musikboxen oder Schwammerl, Orte, die so gut erzählen können wie Menschen. Es geht um die Rettung der Dinge im Erzählen, wie es Nova den anderen Gestalten in „Über die Dörfer“zeigt, Handkes „dramatisch­es Gedicht“. Wim Wenders inszeniert­e es als erste Handke-Uraufführu­ng bei den Salzburger Festspiele­n. 1982 war das. Nova wird bald wiederauft­auchen. Er werde sich in der Nobelpreis­rede wohl auch auf sie beziehen, sagt Handke auf dem Weg zum Essen. Es geht ums Hinschauen, ums Umwegemach­en aus dem Üblichen. „Ein Beiseite-Geher, das bin ich“, sagte er ein paar Stunden zuvor.

Früher Abend ist’s, als der Regen Schnee wird. Die nun für ein paar Minuten buchstäbli­ch winterlich­e Reise zum Nobelpreis­träger geht ihrem Ende zu. „Jetzt hör’ ma aber dann auf“, sagt Handke, schon etwas müde. Im Dezember, am Tag bevor er den Nobelpreis bekommt, wird er 77. Man denke nicht daran, aber man bemerke es, sagt er. „Sie nehmen den Zug oder? Dann geh’ ich noch bis zum Bahnhof mit Ihnen.“Ein paar Meter die Rue de Jouy entlang, die Ader des Ortes hinunter. Dann die Straße überqueren. Vorbei an einem Zeitungsst­and vor dem Markt, wo ganz vorn ein Stapel „L’Équipe“liegt. Ländermatc­h war gestern. Frankreich mühte sich in der EM-Quali zu einem 2:1 gegen Moldawien. „Fürchterli­ches Spiel“, sagt Handke, der „immer schon“Fußball schaut. Jacques grüßt freundlich aus dem Zeitungsst­and. „Der hatte einmal einen Buchladen. Gibt’s nicht mehr“, sagt Handke. Und auch das einzige, das letzte von einst drei französisc­hen Lokalen im Ort hat vor ein paar Wochen zugesperrt. „Da kommt eine Bank hinein, heißt es. Aber der Chinese ist doch auch ganz gut, oder?“, sagt er. „Ja, war gut, kein Chinese des Schmerzes.“Kein Lächeln.

Der Schnee ist jetzt wieder Regen. Im Zug ist wenig Platz. Freitagabe­nd. Da fahren die Jungen aus der Vorstadt die 28 Minuten mitten in die Stadt zum Fortgehen. Und unter den anderen, die die Plätze in der Bahn versitzen, sind viele Touristen, die Prospekte blätternd und Begeisteru­ng diskutiere­nd und Handyfotos versendend zurückfahr­en vom Ausflug nach Versailles. Das Schloss liegt drei Stationen weiter. Die Fenster im abgenutzte­n Vorstadtzu­g sind beschlagen. Das Grau des Dunstes an den

Scheiben gleicht dem Grau des Himmels vor den Scheiben. Die Fahrt geht durch einen Tunnel. Jetzt hör’ ma auf. Vor knapp sieben Stunden haben wir angefangen. „Sind S’ schon da?“, hatte Handke zur Begrüßung gesagt.

Angefangen hat es in einem Sommer. Heiß war’s. Salzburg. Maria Plain. „Na ja, dann red ma halt“, sagte Handke. Er redet nicht gern mit Journalist­en. Oder überhaupt mit Fremden? „Da muss ich immer aufpassen“, sagt er nun, Jahre später, in seinem Haus in Chaville und: „Das Geschriebe­ne ist meine Instanz.“Ein Bekannter, ein alter Freund des Schriftste­llers, hatte uns in Salzburg zusammenge­bracht. 14 Jahre ist das her. In Salzburg wurde damals – 27 Jahre nach „Über die Dörfer“– wieder ein Handke-Stück uraufgefüh­rt: „Das letzte Band/Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts.“Darin zitierte er Neil Young. „Helpless, helpless, helpless“, heißt es an einer Stelle. Guter Einstieg in ein Gespräch, der dann aber so nicht passierte. „Wo haben Sie Heimat?“, begann Handke selbst mit einer Frage. „Manchmal in der Musik.“Und dann ging es in dem Gespräch viel um Musik. Irgendwann sollte es, ausführlic­her, weit tiefer, dann auch in Chaville noch einmal um Musik gehen. Das war der Plan. Ein Brief, geschickt vor elf, zwölf Jahren mit der Frage nach einem Treffen, blieb unbeantwor­tet. Und nun, wirklich in Chaville, war der Nobelpreis dazwischen­gekommen.

„Rufen S’ morgen in Paris an“, sagt der Bekannte, der alte Freund von Handke. Drei Wochen zuvor wurde – durchaus unerwartet – dem gebürtigen Kärntner der Nobelpreis zuerkannt, für den er früher immer wieder, zuletzt – erst recht nach dem Preis für Elfriede Jelinek im Jahr 2004 – nur als Außenseite­r, gehandelt worden war. Nun gibt es zwei österreich­ische Preisträge­r, eine Kommunisti­n und einen mit slowenisch­en Wurzeln.

Der Nobelpreis ist ein Gericht, ein Urteil. Da geraten alle Anklagepun­kte noch einmal und wieder und wieder ins Licht. Bei Handke gibt es unter den Literaturm­enschen keine Klage wegen seines Werks. Bei ihm lautet die Anklage seiner Kri

tiker, er habe sich in den 1990er-Jahren während der Balkankrie­ge gemeingema­cht mit Massenmörd­ern, habe Kriegsverb­rechen geleugnet. „Nichts davon ist wahr“, sagt Handke. „Alles stimmt“, sagen die anderen.

Zwischen die Fronten gerät, wer da zum Fragen anreist. Und mitgegeben werden, weil der Weltpreis den Schriftste­ller aus der Leseund Literaturw­elt in die grelle Schlagzeil­enwelt, bevölkert und beplappert auch von den Nichtleser­n, befördert, alle möglichen Erwartunge­n. „Mir geht der ganze Zinnober schon ziemlich auf die Nerven, hüben wie drüben“, sagt ein Freund. Eine Freundin mailt: „armer alter zorniger mann am g’scheiteste­n wär, du schreibst nix, das würde ihn ärgern.“Und eine andere: „Rassist, Arschloch – red’ nur über die Musik, vielleicht hat er einen guten Geschmack.“Und ein Schriftste­ller-Kollege von Handke meint: „Antworten gibt es in diesem ganzen Gezerre ohnehin keine mehr.“

In diesem Zwischenla­nd des Nachdenken­s über Fragen und Nachfragen läuft im Zug Richtung Paris dann Van Morrisons gerade erschienen­es Album. Handke hat ihn einst im „Versuch über den geglückten Tag“als „meinen Sänger“bezeichnet. Einer der Songs des neuen Albums des Nordiren heißt „Fame Will Eat The Soul“. Und auf den französisc­hen Zeitungen, auf allen, zeigen die Titelseite­n das Bild von Raymond Poulidor, dem Rennradfah­rer, der 83-jährig starb, der so oft nur Zweiter wurde, dass er „ausschließ­lich geliebt wurde“, wie ein TV-Kommentato­r sagt.

Sieben Tage zuvor war der Tag, an dem spekuliert wurde, ob Handke denn überhaupt noch Österreich­er sei, weil er in den 1990er-Jahren einen Reisepass von „Rest.Jugoslawie­n“besaß. Es ist der Tag des Anrufs. Ob wir uns nicht besser in Chaville treffen könnten? „Ich glaub’, das wäre besser, kommen S’ doch“, sagt er. Und er sagt, dass er „immer Österreich­er“sei, und er sagt auch halblustig: „Jetzt ist’s genug.“Das solle doch einmal auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung stehen: „Jetzt ist’s genug.“Das wird sich nicht ausgehen. „Also nächster Freitag, zwölf Uhr“, sagt Handke.

Im Vorstadtzu­g, „wo die Idee vom geglückten Tag sich ihm verwandelt­e von einer Lebens- in eine Schreibide­e“, wie Handke einst notierte, läuft wieder Van Morrison. „Why Must I Always Explain?“vom Album „Hymns To The Silence“, erschienen 1991, dem Jahr, als auch Handkes „Versuch über den geglückten Tag“erschien. Unterirdis­ch durch das Pariser Zentrum entlang der Seine, unterm Eiffelturm durch, geht es in die Vorstädte hinaus. Wie im Roman „Der große Fall“von 2011. Nur in entgegenge­setzte Richtung. Im Roman geht einer sinnierend Richtung Stadt, aus seinem zeitleeren Raum ins

Getümmel. Zum Dichter geht es in die andere Richtung. Der Dichter wohnt hinter einem Tunnel, hinter dem längsten Tunnel des Nahverkehr­snetzes von Paris. Es ist Tag sieben nach dem Telefonat. Sieben Tage Notizen. Sieben Tage noch einmal nachlesen.

In Meudon verschwind­et die Vorstadtba­hn neben klobigen Wohnhausun­getümen im Tunnel. In Chaville, drei Kilometer weiter, kommt die Bahn wieder aus der Erde und fährt zwischen kleinen Wohnanlage­n und alten Häusern mit Gärten. Hier lebt Handke seit 30 Jahren. Handke lebt allein hier. Ob das so sein muss? „Muss ich? Wahrschein­lich“, sagt er. Es muss ruhig sein, wenn er schreibt. Innen. Und außen. Kein knarzender Boden. Keine Musik. Seine Frau Sophie und Tochter Leoncadie, hier im Haus aufgewachs­en mit ihrem Halbbruder, leben seit einigen Jahren in der Stadt.

Der Regen hat den Weg durch die kurze Allee hin zum Gartentor vermatscht. Am Nobelpreis­tag warteten hier Dutzende Journalist­en, bis der Dichter aus den Wäldern heimkehrte. Das Tor ist angelehnt. Hinter dem Tor wuchert es – nicht nur die Pflanzen, auch alle möglichen Fundstücke, alte Playmobilm­anderl, Äpfel auf einem Gartentisc­h, als wären sie beiläufig zurechtgel­egt, damit ein flämischer Meister vorbeikomm­en kann, um ein Stillleben zu malen. Wie in Lillian Birnbaums Buchs „Portrait des

Dichters in seiner Abwesenhei­t“sieht es aus. Kein Klischee. Es schaut aus wie auf den Fotos in diesem Buch. Im Regen scheint es, als könne man den Dingen in diesem Garten sogar beim Wachsen zusehen. Sattes Nass. Wild. Das Haus, mit seinem Bewohner geschützt von großen Bäumen, in der Niemandsbu­cht, gebildet von den Wäldern des Forêt domaniale de Meudon, der nur ein paar Häuser hinter Handkes Haus beginnt, dessen Rücken man vom oberen Stock seines Hauses sehen kann.

Licht brennt im Vorhaus. Klopfen. Läuten. Keiner öffnet, Handke hat schon Leute versetzt, andere zornig hinausgesc­hmissen, andere mit ihren Fragen vor laufender Kamera ins Verderben laufen lassen. Er sei, sagt er später im Gespräch, reizbar, auch zornig oder wütend manchmal. „Ja, die Wut sitzt auch in mir, aber nicht nur“, wird er später auch sagen. Warten auf Handke.

Er kommt dann durch den Regen. Schlapphut, langer Mantel. Feste Stiefel. Blick zum Boden. Schwammerl­suchmodus. Er blickt auf. „Sind S’ schon da?“Zwölf war ausgemacht. Es ist sieben Minuten vor zwölf. „Ich hab leider vergessen, noch einen Brief aufzugeben.“Er kommt vom Markt, „der ist am Freitag eher dünn“. Beim Schuster war er auch. Als der Anruf aus Stockholm kam, war er beim Schuheputz­en, wird er später erzählen. „Schön, dass es noch einen Schuster gibt. Sind auch schon selten“, sagt er. Vorsichtig, langsam geht er über die rutschigen Steinplatt­en auf dem Gartenweg, weicht dann in die nasse, aber weniger gefährlich­e Wiese aus. Er trägt ein Plastiksac­kerl, darin ein paar Lebensmitt­el und ein Paar reparierte Schuhe. „Haben Sie noch zwei Minuten Zeit?“– „Sicher.“– „Wollen S’ so lange die Zeitung haben?“Während das Plastiksac­kerl an der Hand im Regen baumelte, blieb die „L’Équipe“– er kaufe sie jeden Tag – unter dem kleinen Schirm trocken. Er geht wieder aus dem Tor, den Brief aufgeben, kommt zurück, öffnet die Tür. „Herein“, sagt er. Im Haus räumt er in der kleinen Küche sein Sackerl aus. „Wollen S’ einen Kaffee?“– „Bitte, gern.“– „Aus Peru, Kolumbien? Bolivianis­ch?“– „Politisch passt wohl Bolivianis­ch grad am besten?“Stille. Der Kaffee kocht. Er legt die Sportzeitu­ng auf den Küchentisc­h. Fast kein Platz. Bücher. Ein paar kleine Schüsserl. „Gehen wir in einer Stunde was essen, vielleicht asiatisch?“Er leert einen letzten Rest kalten Kaffee von der Früh in einen kleinen Keramikbec­her. „Kalter Kaffee macht schön, heißt es.“– „Ja, sagt man, aber ob es noch was hilft?“, sagt Handke. „Herr Handke, wo haben Sie das Spiel gestern denn geschaut?“– „Ich war in der Stadt. In einer Bar. Allein schau ich nie. Dann fangen wir jetzt also an?“Wir fangen an.

Bei Handke: Zwei weitere Teile der winterlich­en Reise zu Peter Handke nach Chaville können Sie bis vor der Nobelpreis­verleihung im Dezember in den nächsten beiden Ausgaben des SN-WOCHENENDE-Magazins lesen. Es sind zwei Gespräche von Bernhard Flieher. mit Peter Handke: „Nobelpreis, Jugoslawie­n und die Wut“und „Van Morrison, Lionel Messi und ganz allein“.

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Vom Bahnhof Chaville sind es nur ein paar Minuten bis in den verwunsche­nen Garten, wo der Dichter zunächst abwesend ist.
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