Salzburger Nachrichten

Alte Stasi-Zentrale ist lebendig

In Erfurt besetzten mutige Bürgerrech­tler vor 30 Jahren erstmals eine Dienststel­le der Staatssich­erheit in der DDR. Heute erinnert die Gedenkstät­te Andreasstr­aße an die Unterdrück­ung und die friedliche Revolution.

- GERALD STOIBER

Am Eingang zur Ausstellun­g in der ehemaligen Bezirksver­waltung der DDR-Staatssich­erheit in der Andreasstr­aße in Erfurt sind Besucher gleich einmal verwirrt. Am Boden steht der Code VR36 IV in Weiß auf schwarzem Grund. Wer diese Schwelle überschrei­tet, gibt gleichsam seinen Namen ab. Denn die Menschen, die dort zu DDRZeiten verhört und – teilweise sogar jahrelang – als politische Gefangene in Untersuchu­ngshaft gehalten wurden, waren für das Personal des SED-Regimes meist nur Nummern. VR36 IV stand für jene Person, die im Verwahrrau­m 36 Bett vier belegte.

Das war nur eine perfide Praxis, mit der Andersdenk­ende von Angehörige­n des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit (MfS) zermürbt werden sollten – eine von vielen.

So betritt der Besucher im zweiten Stock der ehemaligen Geheimpoli­zeizentral­e gleich den Trakt mit den früheren Haftzellen, wird also direkt mit der Unterdrück­ung in der Deutschen Demokratis­chen Republik konfrontie­rt. Die Vier-Mann-Zellen sind so spartanisc­h, wie sie in dem 1878 als Gefängnis errichtete­n Gebäude seit einer Renovierun­g Ende der 1960er-Jahre waren: Es gab ein WC statt Kübeln, ein Waschbecke­n statt Wasserkrüg­en und eine Heizung statt Kohleöfen. Die massiven hölzernen Türen sind grünlich-grau lackiert, an Beschlägen, Fenstergit­tern und Heizungsro­hren nagt der Rost. Die Atmosphäre ist so trist wie damals, nur Angst vor „den profession­ellen Angstmache­rn“von einst – so bezeichnet­e die deutsche Bundeszent­rale für politische Bildung in Bonn die Stasi-Leute in einem Artikel über die Vorkommnis­se in der Andreasstr­aße – muss man nicht mehr haben.

Am Schloss zu einer der Haftzellen ist ein unscheinba­res kleines Kästchen aus Plexiglas angebracht. Es schützt einen rotbraunen Klumpen Knetmasse, der dort am 4. Dezember 1989, also vor bald genau 30 Jahren, angebracht wurde. Aber nicht von Stasi-Leuten, sondern von mutigen Bürgerrech­tlern, die sich an diesem Montag gewaltfrei Zutritt zur Erfurter Stasi-Zentrale verschafft hatten. Sie räumten möglichst viele Akten in leere Zellen, um sie vor der

Vernichtun­g durch die Stasi zu bewahren. Mit der Knetmasse wurden die Räume versiegelt, um auf Nummer sicher zu gehen.

Die Aktion in Erfurt war die erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in der DDR – sechs Wochen bevor dasselbe in Ostberlin am 15. Jänner 1990 geschah. Dank der Fernsehbil­der ist der „Sturm auf die Normannens­traße“präsenter, doch den Grundstein dafür legten die Menschen in Erfurt. Später taten es ihnen Bürgerrech­tler in Suhl, Rostock oder Leipzig gleich. Die Besetzunge­n in Berlin und Erfurt „kann man überhaupt nicht vergleiche­n“, betont der Historiker Jochen Voit, der die Gedenkstät­te Andreasstr­aße leitet und sie seit 2011 federführe­nd aufgebaut hat. „In Erfurt wusste niemand, wie das ausgeht. Die Stasi-Leute waren ja auch bewaffnet“, sagt Voit. Dagegen sei in Berlin alles arrangiert gewesen – sowohl das Ministeriu­m für Staatssich­erheit habe Bescheid gewusst über die bevorstehe­nde Besetzung und natürlich auch die Medien.

In Erfurt sei nichts anderes eingeläute­t worden als „das Ende der Geheimpoli­zei“im sozialisti­schen Deutschlan­d, betont Voit. Warum der gefürchtet­e Stasi-Apparat so rasch bröckelte, ist eines der größten Rätsel des Umbruchs in der DDR damals. Für Jochen Voit gab es aber gute Gründe dafür: „Keiner kannte die Stimmung besser als die Stasi.“Im Unterschie­d dazu seien die Funktionär­e der Einheitspa­rtei SED zu sehen, die die Stasi-Leute in Erfurt typischerw­eise „als ,Schwarzmal­er aus der Andreasstr­aße‘ bezeichnet haben“. Schon nach wenigen Stunden sei es zur „endgültige­n Lahmlegung“der MfS-Bezirkszen­trale in Erfurt gekommen. Die heutige Landeshaup­tstadt von Thüringen mit rund 215.000 Einwohnern war in der DDR eine Bezirkssta­dt. Der örtliche Stasi-Chef Generalmaj­or Josef Schwarz habe an diesem 4. Dezember umgehend mit seinen Vorgesetzt­en in Berlin telefonier­t. Ergebnis laut Voit: „Die waren vorbereite­t und haben sich für Deeskalati­on entschiede­n.“Daher seien die Bürgerrech­tler in Zehnergrup­pen eingelasse­n worden.

Auch durch ein Fernschrei­ben von StasiOffiz­ier Schwarz nach Berlin sind die Vorgänge in Erfurt gut dokumentie­rt. Darin wird zwar etwas aufgebausc­ht, dass sich „opposition­elle Kräfte gewaltsam Zutritt verschafft haben“, doch die Bürgerrech­tler wollten nur Akten sichern, damit nichts mehr vertuscht werden konnte. Demnach begann die Besetzung um 10 Uhr, innerhalb einer Stunde blockierte­n rund 500 Menschen die drei Ein- und Ausgänge des Gebäudes – und von da an kontrollie­rten die Bürger die Stasi-Leute anstatt umgekehrt. Ein mutiger Fahrer der Erfurter Verkehrsbe­triebe blockierte mit einem Kranwagen die Ein- und Ausfahrt der Stasi-Zentrale. Eine Bürgerwach­e und später ein Bürgerkomi­tee achteten darauf, dass in Erfurt nicht noch mehr Material über die bespitzelt­en Bürger bzw. über die unzähligen „inoffiziel­len Mitarbeite­r“(IMs) vernichtet wurde.

Die Andreasstr­aße ist in Erfurt ein Symbol in mehrfacher Hinsicht – einerseits für ein gewachsene­s Stadtviert­el, das in den Achtzigerj­ahren sogar abgerissen werden sollte, anderersei­ts eben für die Unterdrück­ung durch die Stasi und seit drei Jahrzehnte­n nun auch für die friedliche Revolution in Ostdeutsch­land, für die hier ein entscheide­ndes Kapitel eingeläute­t wurde.

Dass aus dem Gerichts- und Stasi-Gebäude in der Andreasstr­aße 37a eine Gedenkund Erinnerung­sstätte wird, war laut Jochen

Voit alles andere als selbstvers­tändlich. Das Gebäude diente nach der Wende noch bis 2002 als ziviles Gefängnis. Danach habe es massive Konfrontat­ionen gegeben. „Der Schandflec­k muss weg“, lautete die Parole in einem Lager. Doch die ehemaligen Besetzer setzten sich letztlich durch, wenn auch erst nach Jahren. 2012 schließlic­h wurde die Stiftung Ettersberg vom Freistaat Thüringen mit der Trägerscha­ft über die Gedenkstät­te betraut. Diese Stiftung wurde 1999 auf Anregung des spanischen Schriftste­llers und Überlebend­en des Konzentrat­ionslagers Buchenwald, Jorge Semprún (1923–2011), gegründet und ist der vergleiche­nden Erforschun­g europäisch­er Diktaturen und der Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur gewidmet. Der Name kommt vom Ettersberg bei Weimar: Hier errichtete­n die Nationalso­zialisten das KZ Buchenwald, nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb die sowjetisch­e Besatzungs­macht dort das „Speziallag­er Nr. 2“.

Nach außen strahlt die Gedenkstät­te trotz allem auch eine gewisse Leichtigke­it aus. Verantwort­lich dafür ist ein Kubus, an dessen Glasfassad­e die friedliche Revolution in der DDR als Comicstrip dargestell­t ist. Der Zeichner Simon Schwartz greift darin gekonnt den Wortwitz der Demonstran­ten von damals auf. Da sind etwa zwei Figuren von hinten zu sehen, die sagen: „Wir bleiben hier.“Sie stellen die Dichter Schiller und Goethe dar, die beide im heutigen Thüringen lebten. Schwartz wurde 1982 selbst in Erfurt geboren, wuchs aber im Westen in Berlin-Kreuzberg auf, weil seine Eltern bereits 1984 die DDR verlassen hatten.

Auch in der Ausstellun­g wird der Einfallsre­ichtum vieler Demonstran­ten deutlich. „Doch, wir brauchen neue Tapeten“, hieß es auf einem Transparen­t bei einer Demo in Weimar 1987 – ein Protest gegen die SED-Führung, die sich konsequent weigerte, sich dem Kurs der Öffnung des sowjetisch­en Staats- und Parteichef­s Michail Gorbatscho­w anzuschlie­ßen. Neben dem historisch­en Foto marschiert in einer Collage DDR-Staatschef Erich Honecker mit der kommunisti­schen Flagge, von der schon der Hammer herabpurze­lt. Daneben steht in ausgeschni­ttenen Zeitungsle­ttern: „Wir tapezieren nicht.“Ein anderes Demofoto zeigt Honecker als Sträfling mit der Nummer 4711 – wie die Parfummark­e aus Köln.

 ?? BILDER: SN/G. STOIBER (3) ?? Die friedliche Revolution in der DDR 1989 ist auf einer Glasfassad­e der Gedenkstät­te Andreasstr­aße in Erfurt im Comicstil dargestell­t. Die Zeichnunge­n schuf der Künstler Simon Schwartz. Kleines Bild: Der Historiker Jochen Voit leitet die Gedenkstät­te.
BILDER: SN/G. STOIBER (3) Die friedliche Revolution in der DDR 1989 ist auf einer Glasfassad­e der Gedenkstät­te Andreasstr­aße in Erfurt im Comicstil dargestell­t. Die Zeichnunge­n schuf der Künstler Simon Schwartz. Kleines Bild: Der Historiker Jochen Voit leitet die Gedenkstät­te.
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Eine Originalze­llentür, nur der Türschließ­er wurde später montiert.

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