Wir brauchen wieder mehr Afrika
Warum eine afrikanische Philosophie die Welt doch noch retten könnte. Die vermeintliche Überlegenheit westlicher Lebensführung führte in die Sackgasse. Da hilft nur noch Ubuntu.
Von der Logik her haben es Rassisten nicht leicht. Beschimpft ein Europäer einen Afrikaner, dann beschimpft er sich in zweifacher Hinsicht selbst. Erstens liegt die Wiege der Menschheit, wo wir alle herkommen, bekanntlich im Nordosten von Südafrika. Und zweitens gibt es dort eine schlüssige Religionsphilosophie namens Ubuntu. Das lässt sich am ehesten mit dem Begriff „Menschlichkeit“übersetzen.
Um sich ein Bild von Ubuntu machen zu können, wird gern eine Geschichte erzählt, in der ein Forscher hungrigen afrikanischen Kindern einen Korb voller Früchte in Aussicht stellt. Dazu ruft er einen Wettbewerb aus. Jenes Kind, das den Wettlauf zum Korb gewinnt, soll den gesamten Inhalt erhalten. Als er das Startsignal gibt, nehmen sich die Kinder aber an den Händen, laufen gemeinsam los, setzen sich um den Korb und verzehren die Früchte gemeinsam. Auf die Frage des Forschers, warum sie dem Wettbewerb ausgewichen sind, antworten die Kinder: „Wie kann einer von uns glücklich sein, wenn alle anderen traurig sind?“
„Philosophisch lässt sich Ubuntu am ehesten so erklären: ,Ich bin jemand, weil du bist‘“, sagt Lesbila Teffo. Er lehrt an der Universität Pretoria Philosophie. In Afrika, erklärt er, habe Philosophie einen völlig anderen Stellenwert als in Europa, wo sich die Denker in immer höhere und verschwurbeltere Gedankenwelten verirrten. Ubuntu dagegen habe sich nur aus Alltagserlebnissen entwickelt. Man tue sich deshalb sehr schwer, es in Worte zu fassen. Am ehesten, formulierte die südafrikanische Sozialarbeiterein Didintle Ntse in der Sendung „Radio Wissen“auf Bayern 2, sei Ubuntu eine Art Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhalte. Ubuntu sei die Hoffnung auf das Gute im Menschen. Also etwas, was der Gesellschaft in den westlichen Industrieländern heute sehr gut täte. Hier herrsche soziale Ungerechtigkeit und privat vernetzten sich zwar immer mehr Menschen – aber da dies so gut wie nur im Internet geschehe, vereinsame die Gesellschaft zusehends.
Der französische Philosoph René Descartes hat seine Erkenntnistheorie auf dem Satz „Ich denke, also bin ich“aufgebaut. Im Ubuntu ist das ähnlich. Da wird aber das entscheidende Wort ausgetauscht. Man sagt: „Ich fühle, also bin ich.“Wie das in der Praxis funktioniert, dafür hat die südafrikanische Schriftstellerin Barbara Nussbaum ein Beispiel: „Da gab es in einem Dorf einen sehr unartigen, frechen 16-Jährigen. Da kamen die Ältesten zusammen und überlegten sich, wie sie mit ihm umgehen sollten. Die Strafe, für die sich der Rat entschied, bestand darin, dass der Jugendliche ein Wochenende lang in der Mitte eines Kreises sitzen musste, während die Dorfbewohner um ihn herumgingen und immer wieder sagten: ,Wir lieben dich wirklich!‘“
Wie wichtig Ubuntu für die gesamte Weltbevölkerung sein könnte, das formuliert der Philosoph Augustine Shutte von der Universität Kapstadt so: „Die Apartheid baute auf die Überzeugung, dass Freiheit nur in Trennung funktioniert. Und auf die Annahme, dass man die eigene Kultur nur erhalten kann, wenn man sich von anderen Kulturen abgrenzt.“Ubuntu sei genau das Gegenteil davon: „Es sagt, unsere Menschlichkeit ist so reich, dass eine Kultur allein das gar nicht ausdrücken kann. Und dass der Kontakt und die gegenseitige Abhängigkeit zum anderen uns immer reicher macht.“Kurz: Wer mit Menschen in gutem Einvernehmen zusammenleben will, der müsse die Gruppe als Fundament betrachten, auf dem sich das
Individuum entfalten könne: vom Einzelnen über die Gruppe bis zur Weltbevölkerung.
Der Philosoph Dirk Louw vergleicht Ubuntu deshalb mit einem Orchester: Das ist ein Ganzes und der einzelne Musiker ist Teil des Ganzen – und das ist mehr als die Summe seiner Teile.“Wenn dort jeder seine Rolle einnehme, schaffe das eine gemeinsame Identität. „Und da geht es nicht um ein gleichförmiges Kollektiv, sondern um echte Gemeinschaft, die ein eigenes Leben hat.“
Augustine Shutte bezeichnet Ubuntu in seinen Lehrveranstaltungen als dritten Weg zwischen den beiden großen Ideologien der Welt. Das sind der liberale, kapitalistische Weg sowie das Modell des Kommunismus und Sozialismus. Ubuntu dagegen sei als dritter Weg mit einem Windhauch vergleichbar. In dem Moment, wo man versuche, es festzuhalten und zu kontrollieren, verschwinde es sofort.
Denn dieses Lebensgefühl könne man nun einmal nicht einfach so verkaufen und kontrollieren. Es verlangt schließlich auch keinen Kirchenbeitrag.
Ubuntu, so fassen die Südafrikaner zusammen, ist die Essenz des Herzens.
Eine Kultur allein kann die gesamte Menschlichkeit eben nicht ausdrücken. Augustine Shutte Philosoph (Universität Kapstadt)