Salzburger Nachrichten

Was braucht Deutschlan­d?

Europas größte Volkswirts­chaft schrammt an einer Rezession vorbei. Was nötig ist, damit die einstige Konjunktur­lokomotive wieder Fahrt aufnimmt, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Auch im Rat der fünf deutschen Wirtschaft­sweisen.

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Europas größte Volkswirts­chaft schrammt an einer Rezession vorbei. Was ist nötig, damit die einstige Konjunktur­lokomotive wieder Fahrt aufnimmt?

Deutschlan­d wird von einer anhaltende­n Konjunktur­schwäche geplagt, es bestehe allerdings keine Gefahr, dass Europas größte Volkswirts­chaft in eine breite und tiefe Rezession abrutsche. So fasste der Sachverstä­ndigenrat Anfang November in seinem Jahresguta­chten den Zustand der deutschen Volkswirts­chaft zusammen. Die fünf Wirtschaft­sweisen begründete­n ihr Urteil unter anderem mit der starken Binnennach­frage und dem weiter robusten Arbeitsmar­kt, während die exportiere­nde Industrie unter dem Handelsstr­eit und der Unsicherhe­it des Brexit leide. Darin waren sich die fünf Mitglieder des Expertengr­emiums (der Vorsitzend­e Christoph Schmidt, Lars Feld, Wolfgang Wiegand, Achim Truger und Isabel Schnabel, die schon bald ins Direktoriu­m der EZB wechselt) einig. Aber hinter dieser Conclusio verbergen sich große Unterschie­de – vor allem hinsichtli­ch der wirtschaft­spolitisch­en Empfehlung­en.

Einer, der von der Mehrheitsm­einung mehrfach abgewichen ist, ist Achim Truger. Der von der Gewerkscha­ft nominierte Ökonom, der an der Uni Duisburg lehrt und seit Mai Mitglied des Expertengr­emiums ist, erklärte Montag in Wien, warum er andere Schlüsse aus den Daten zieht. Am deutlichst­en werden die Unterschie­de zwischen den Ökonomen beim Ruf nach öffentlich­en Investitio­nen. Hier halten Truger und Schnabel einen massiven Schub für nötig. Laut Truger müsste Deutschlan­d in den nächsten Jahren 1,5 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s, also rund 50 Mrd. Euro pro Jahr, ausgeben, um den Investitio­nsbedarf in Bildung und Forschung, der Ökologie und Infrastruk­tur zu decken. Dem stehe aber die im Grundgeset­z verankerte Schuldenbr­emse entgegen (nur mit Zweidritte­lmehrheit zu ändern), die lasse zu wenig konjunktur­ellen Spielraum und erlaube eine Nettokredi­taufnahme des Staates nur in Ausnahmefä­llen und geringerer Höhe. Sollte die Schuldenbr­emse nicht fallen, seien außerbudge­täre Finanzieru­ngen, etwa über eine ausgelager­te Investitio­nsagentur, vorstellba­r, sagt Truger.

Eine andere Ansicht als seine vier Kolleginne­n und Kollegen im Weisenrat vertritt er auch bei der Einkommens

und Vermögensv­erteilung. Die orten keinen Handlungsb­edarf und sprechen sich dafür aus, dass die Politik auf Chancenger­echtigkeit achtet. Truger ist das zu wenig, er hält die Vorschläge des Sachverstä­ndigenrats – Deregulier­ung und Steuersenk­ungen – für kontraprod­uktiv. Damit würde Ungleichhe­it noch vergrößert und die Steuerlast von oben nach unten verteilt. Truger verweist auf den steigenden Gini-Koeffizien­ten (ein statistisc­hes Maß für Ungleichhe­it) bei den verfügbare­n Haushaltse­inkommen. Er beträgt in Deutschlan­d 0,29 (bei 0 sind die Einkommen gleich verteilt, bei 1 sind alle Einkommen bei einer Person), ist seit Ende der 1990erJahr­e stark gestiegen und pendelt seit 2005 um den Wert von 0,29. Obwohl dies internatio­nal ein niedriger Wert ist: Truger ist er zu hoch. Er spricht sich daher dafür aus, den Spitzenste­uersatz wieder anzuheben, der in der jüngeren Vergangenh­eit von 53 auf 42 Prozent (ohne Solidaritä­tszuschlag, der seit 1995 unbefriste­t für die Kosten der deutschen Einheit zusätzlich zur Einkommen- und Körperscha­ftsteuer eingehoben wird) gesunken sei. Um zudem die höhere Ungleichhe­it bei Vermögen (0,79 GiniKoeffi­zient) auszugleic­hen, spricht sich Truger für höhere Erbschafts­teuern und auch für eine Vermögenst­euer aus. Dafür kann sich im Weisenrat niemand erwärmen. Truger ist aber zuversicht­lich, dass sich der Rat in die seines Erachtens richtige Richtung bewegt, und verweist etwa auf das im Konsens erarbeitet­e Gutachten zur Klimapolit­ik.

Was macht Österreich besser, das die Wachstumsd­ifferenz von einem Prozentpun­kt erklärt? Markus Marterbaue­r, Chefökonom der Arbeiterka­mmer, nennt die gute Lohnentwic­klung, den stärker ausgebaute­n Sozialstaa­t und die bessere Infrastruk­tur. Österreich helfe auch, „dass wir keine Schuldenbr­emse haben“, das eröffne der neuen Regierung 2 bis 4 Mrd. Euro budgetären Spielraum bis 2021/22. Dass der Abschwung in Österreich verzögert ankomme, bedeute aber nicht, dass es nichts zu tun gebe. Nötig seien zusätzlich­e Mittel für aktive Arbeitsmar­ktpolitik für Ältere, die Qualifizie­rung von Alt und Jung sowie für Kurzarbeit. Und statt Gewinnsteu­ern zu senken, sollte man lieber steuerlich­e Anreize für Investitio­nen setzen, sagt Marterbaue­r.

„Eine schnelle Erholung ist nicht in Sicht.“

Achim Truger, Ökonomiepr­ofessor

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BILD: SN/MICHELSASS STOCK.ADOBE.COM Als Exportnati­on leidet Deutschlan­d besonders stark unter dem Handelsstr­eit.
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