„Wir spüren keine leere Zeit mehr“
In der Vorweihnachtszeit erreicht der Stresspegel oft einen bedenklichen Höhepunkt. Wie kann man gegensteuern?
In der Vorweihnachtszeit erreicht der Stresspegel oft einen Höhepunkt. Wie man gegensteuern kann.
Die Autorin und Stressmanagerin Dorothea Neumayr legt in ihrem neuen Buch „Zeit für Deine Seele“den Finger in die Wunden einer immer schnelllebigeren Zeit. Im SNGespräch gibt sie Tipps, wie man sich dem Hamsterrad zwischendurch entziehen kann und Burnout und Überforderung vorbeugt.
SN: Wir sind heute, wie auch Psychologen und Psychiater betonen, vielfach nicht in der Lage, vom hohen Stresslevel herunterzukommen. Warum fällt das Abschalten so schwer? Dorothea Neumayr: Wir lassen uns nicht nur vom Stress und der damit verbundenen Geschwindigkeit mitreißen, sondern auch von der damit verbundenen Oberflächlichkeit. Da müssen wir noch schnell das Handy checken, obwohl wir besser einmal tief durchatmen sollten. Wir gönnen uns die Pausen nicht mehr als Pausen, wir spüren keine „leere“Zeit mehr, weil wir sie immer füllen.
Wenn wir lernen, immer wieder einmal innezuhalten, damit wir zu uns selbst finden und bei uns sind, dann sind wir auch in einem Modus, in dem wir uns nicht so leicht vom Stress mitreißen lassen. Aber Stress machen wir uns zu einem nicht zu unterschätzenden Teil auch selbst.
SN: Warum sind wir so rastlos geworden oder ist die Rastlosigkeit auch in unseren Genen verankert? Das ist sicher eine Folge unserer schnelllebiger gewordenen Zeit. Die mobile Vernetzung, dass man jederzeit und überall erreichbar ist, trägt da zum Beispiel ihren Teil dazu bei. Und wir sind dabei mit einer Geschwindigkeit unterwegs, die uns allen nicht guttut.
Früher hatte man nach der Arbeit tatsächlich Feierabend, der Raum für Muße schenkte, Zeit für sich und nahe Menschen. In unserer Leistungsgesellschaft, in der die Formel „Zeit ist Geld“entstanden ist, verlernen wir, auf unsere eigene Zeit zu horchen. Die innere Zeit ist aber gleichsam der Puls unserer Seele, unser ganz eigener Rhythmus, auf den wir hören sollten.
SN: Sollten wir uns heute Pausen quasi gewaltsam nehmen? Richtig, gewaltsam. Wir müssen uns die Pausen bewusst nehmen, denn sie sind keine verlorene Zeit. Wir sollten mehrmals am Tag daran denken: Ich halte jetzt inne, ich mache jetzt Stopp und ich bin, wenn es auch nur fünf Minuten sind, für niemanden erreichbar. Pausen sind wie Leuchttürme, die uns davor bewahren, an den Untiefen unserer Geschwindigkeit zu scheitern. Die Seele braucht Pausen, in denen die Gedanken schweifen dürfen, Zwischenzeiten.
SN: Sie sagten eingangs, dass wir sonst nicht mehr bei uns seien. Was meinen Sie damit? Bei uns sein bedeutet wach sein, präsent sein, offen sein für den Moment und zu wissen, was wir tun. Wenn ich zum Beispiel jetzt mit Ihnen spreche, dann konzentriere ich mich ausschließlich auf unser Gespräch und erledige nicht parallel dazu auf möglicherweise sogar zwei Handys andere Dinge und habe im Extremfall daneben vielleicht auch noch einen Laptop offen. Denn dann bin ich nicht wirklich bei mir.
SN: Haben wir verlernt, uns nur auf eine Sache voll zu konzentrieren? Unser Alltag ist eine einzige Rushhour von unzähligen Erledigungen und Aufgaben, die alle jetzt und heute und am besten simultan erledigt werden müssen. Wir funktionieren, aber wir atmen nicht mehr, es ist eine Zeit der Besinnungslosigkeit,
in der wir so existieren. Das merkt man auch schon stark bei den Kindern. Sie können sich schwer konzentrieren und sind oft nur kurz aufmerksam und aufnahmefähig, weil sie das nicht mehr lernen. Die Kinder werden heute rund um die Uhr bespaßt, ständig muss Action sein.
SN: Gönnen wir den Kindern zu wenige Pausen? Die Kinder haben heute wenig Freizeit oder Ich-Zeit, in der sie wirklich Kind sein dürfen. Und wenn sie nur in die Luft schauen und vor sich hin tagträumen. Dann heißt es schon, tu weiter, ziehe dich an, beeile dich, träume nicht, mach, mach. Oft müssen sie nach der Schule noch zum Reiten, zum Judo, in den Musikunterricht und vieles mehr.
Kinder sitzen manchmal gern einfach nur da und sind. Dieses nur Dasitzen und Sein haben wir auch verlernt. Ich selbst liebe es, zwischendurch einfach nur zu schauen. Dann sitze ich am Meer oder auf einem Berg oder im Garten und schaue absichtslos hinaus und gleichzeitig in mich hinein. Das tut der Seele unendlich gut.
SN: Hat man heute im dichten Alltag aber überhaupt die Zeit, um das zu machen, was Sie einfordern? Viele Eltern müssen oft nicht nur mit einem Job die Familie über Wasser halten und die Kinder betreuen. Da ist bei vielen jede Minute des Tages durchgeplant. Wir bekommen alle jeden Tag 24 Stunden Zeit geschenkt und es stellt sich dabei immer die Frage, welche Qualität ich meiner Zeit gebe. Gehe ich sorgsam um mit diesem begrenzten Gut, wo setze ich Prioritäten, wo nehme ich mich heraus, wo ist meine Ich-Zeit? Zeit ist eine Maßeinheit, mit der wir dem Leben zeigen, was uns wirklich wichtig ist. Denn in dem Moment, in dem wir in ein Burnout kommen, so überfordert sind, dass wir nicht mehr können oder sonst Schlimmes erleiden, werden wir herausgenommen. Und dann funktioniert es eigenartigerweise auch ohne uns.
SN: Ihr Buchtitel lautet „Zeit für Deine Seele“. Was meinen Sie mit Seele? Wir erkennen die Seele in einem Lächeln, in einer Berührung, einer Erinnerung. Wir spüren sie in diesem ersten verschleierten Blick, mit dem ein Neugeborenes seine Mutter anschaut.
Die Seele ist, was einem Augenblick Unsterblichkeit verleihen kann, manchmal Andacht erweckend, nicht in Worte zu fassen. Sie lässt uns ohne Verstand verstehen, ohne Augen sehen, sie ist unser inneres Zuhause.
SN: Wo können Sie am besten die Seele baumeln lassen? Für mich ist die Heimat der Seele die Natur, wo ich sofort merke, ich bin zu schnell, zu laut, ich bin überfordert. Hinauszugehen in die Natur schenkt uns Energie und tiefe Entspannung.
Im Wald ist es still, da höre ich nur die Vögel, atme gute Luft und kann schnell regenerieren. Wenn ich auf einen Berg wandere, oben auf dem Gipfel stehe und mit einem unendlichen Weit- und Überblick beschenkt werde, dann entstehen Räume, wo ich spüre, dass meine Seele wieder Luft unter die Flügel bekommt.
Wenn man nicht in den Wald oder auf einen Berg gehen kann, genügt es auch, hinaus vor die Tür zu gehen und ein paar Mal tief durchzuatmen. Es geht um diese kleinen Inseln, die man sich schafft, wo man wieder Kraft tanken kann. Eine solche Insel kann auch sein, dass man seine Lieblingsmusik hört, und wenn es nur ein Stück ist.
Musik, Schreiben, Malen tut der Seele gut, ein gutes Buch, ein schönes Gedicht lesen oder einfach die Katze streicheln.
„Kinder sitzen manchmal nur gern da.“
Dorothea Neumayr, Autorin