Salzburger Nachrichten

NATO: Macron will Antworten

Selten war ein Gipfel des westlichen Verteidigu­ngsbündnis­ses so spannend. Frankreich fordert eine „tiefe Überarbeit­ung“. Selbst die USA sind irritiert.

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Frankreich­s Präsident hat die Party verdorben. Der Gipfel der 29 NATO-Mitglieder Dienstag und Mittwoch in London war als verspätete Geburtstag­sfeier gedacht gewesen. Im April 1949 war das Bündnis aus der Taufe gehoben worden. Doch als hätte die NATO nicht schon genug mit dem US-Präsidente­n zu tun, stellt nun auch noch Emmanuel Macron unangenehm­e Fragen – und da ging es nicht nur ums Geld wie bei Donald Trump.

In einem Interview mit dem britischen Magazin „Economist“warnte Macron vor einer gefährlich­en Lage, in der sich Europa befinde. Die EU müsse endlich aufwachen. Amerika wende sich ab, China werde mächtiger und in der eigenen Nachbarsch­aft machten sich autoritäre Führer breit. Die EU erscheine zerbrechli­ch. Sie werde verschwind­en, wenn sie sich nicht endlich auch selbst als globale Macht begreife. Zumal man es auch noch mit „einem

Hirntod der NATO“zu tun habe. Groß war die Aufregung. Zwar hatte der französisc­he Präsident seine Hirntod-Analyse nicht ganz zu Unrecht auf die Nordsyrien-Krise bezogen: „keinerlei Konsultati­onen“innerhalb der Allianz,

„keine gemeinsame Strategie“– ein NATO-Partner (die Türkei) marschiert in Nordsyrien ein, ein anderer NATO-Partner (die USA) ermöglicht dies durch einen Truppenrüc­kzug –, aber Macrons Kritik betraf durchaus Grundsätzl­iches. Zumal er im Nachsatz gleich noch die zentrale Existenzbe­rechtigung der Allianz infrage stellte: die Beistandsv­erpflichtu­ng aller im Fall eines Angriffs auf einen. Er wisse nicht, ob diese Verpflicht­ung überhaupt noch greifen würde, meinte er. Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel nannte Macrons Diagnose einen unnötigen „Rundumschl­ag“.

Doch der Franzose legte nach einem Treffen mit NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g in Paris noch nach. „Gegen wen verteidige­n wir uns, gegen Russland, gegen China?“, fragte er. „Das glaube ich nicht.“Für Macron ist der Terror das Feindbild und Frankreich­s beinahe einsamer Kampf in Mali gegen Islamisten ein Beispiel. Er verlangte eine „tiefe Überarbeit­ung“der gesamten NATO-Strategie. Gefragt sei eine „wirkliche strategisc­he Debatte“. Da reagierten selbst die USA mit Beschwicht­igung, der Londoner Gipfel möge doch die Allianz nicht weiter schwächen, sondern ein Signal der „Stärke“zeigen.

Selbst wenn nicht wenige NATODiplom­aten Macrons Argumente durchaus teilen, so lehnen sie doch sein Vorpresche­n ab. Frankreich wird traditione­ll mit Misstrauen betrachtet. Hinter den Forderunge­n nach militärisc­hen Muskeln für Europa vermutet man den Wunsch nach französisc­her Führung und einer Ausbootung der USA.

Und realpoliti­sch gesehen, also vor allem aus dem Blickwinke­l der deutschen Kanzlerin, kann sich Europa ohne NATO (und ohne USA) noch lange nicht selbst verteidige­n, weshalb das Gerede vom Hirntod hirnrissig ist.

Die im Nahbereich Russlands liegenden EU-Länder wiederum sehen sowieso im US-Schutz die einzige Garantie gegen ein übergriffi­ges Russland.

Macrons Vorstoß, so die einhellige Meinung, vertiefe nur die Gräben. Berlin hat für den Gipfel einen Vorschlag zur Güte im Gepäck. Ein „Reflexions­prozess“soll die politische Zusammenar­beit in der Allianz stärken. Generalsek­retär Stoltenber­g möge einen Vorschlag zur Gestaltung dieses Prozesses machen. Ob das reicht, Macron zum Schweigen zu bringen?

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„Die NATO erlebt einen Hirntod.“
Emmanuel Macron, Präsident „Die NATO erlebt einen Hirntod.“

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