Warum Rot derzeit nicht die Modefarbe ist Raus aus der Echokammer der Hardcore-Funktionäre!
Gerüchte über das Ableben der Sozialdemokratie sind stark übertrieben. Von Scheintod hingegen kann man durchaus sprechen. Doch es gibt Hoffnung.
Die deutschen Sozialdemokraten, die einst prägende Gestalten wie Willy Brandt an ihre Spitze stellten, haben also Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum neuen Vorsitzteam gewählt – eine weithin unbekannte, links verortete Bundestagsabgeordnete und einen ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister, der der eigenen Regierung in Berlin überaus kritisch gegenübersteht. Es ist den deutschen Sozialdemokraten unbenommen, auf jenes kollektive Führungsprinzip zurückzugreifen, das schon bei den Grünen nicht funktioniert hat. Und natürlich wäre es extrem unfair, über die beiden Vorsitzenden bereits den Stab zu brechen, ehe sie noch wirklich ihr Amt angetreten haben. Doch jenseits dieser Einschränkungen muss konstatiert werden: Die Kür einer solchen Parteiführung, die jede Strahlkraft über das engere rote Umfeld hinaus vermissen lässt, ist das Resultat, wenn ausschließlich die Meinung der Parteimitglieder dafür maßgebend ist, wer an der Spitze stehen soll.
Diese Form der Mitgliederdemokratie stellt zwar ein basisdemokratisches Hochamt dar. Sie lässt nur außer Acht, dass sich eine Partei zur Sekte entwickelt, wenn sie nur noch auf ihre Funktionärskader hört. Zweckmäßiger wäre es, die enge Echokammer der HardcoreFunktionäre zu verlassen und lieber auf die Stimme jenes viel größeren Kreises an Personen
zu hören, die am Wahltag damit liebäugeln, dieser Partei ihre Stimme zu geben. Ohne diesen Personenkreis an Sympathisanten, der weit über die engeren Funktionärskader hinausgeht, kann nämlich eine Partei keine Wahl gewinnen, heiße sie nun SPD oder sonst wie.
Ein Blick nach Österreich hätte den deutschen Genossen hilfreich sein können: Hier waren bei der jüngsten Nationalratswahl jene beiden Parteien am erfolgreichsten, deren Parteichefs weit über das eigene Funktionärslager hinaus strahlten: die ÖVP und die Grünen. Die ÖVP hat ihre jahrzehntelange Krise überhaupt erst überwunden, seit sie den Unfug beendet hat, immer jenen Mann an die Spitze zu stellen, der den diversen Teil- und Landesorganisationen am besten zu Gesicht stand, sonst aber nicht viel zu bieten hatte. Auf diese Art wurde beispielsweise ein Michael Spindelegger Parteichef – ein Mann, der in den ÖVP-Funktionärszirkeln wohlgelitten war, bei den potenziellen Wählerinnen und Wählern aber lähmende Langeweile auslöste. Erst mit der Kür Sebastian Kurz’ beschritt die ÖVP neue und erfolgversprechende Wege. Parteichef Kurz mag den eigenen Funktionären mitunter unbequem sein, dafür aber gewinnt er Wahlen.
Wie tief indes die Krise der europäischen Sozialdemokratie ist, erschließt sich unter anderem aus der Tatsache, dass die SPÖ nicht vom Fleck kommt, obwohl sie mit der Kür Pamela Rendi-Wagners eigentlich den richtigen Weg beschritten hat. Rendi-Wagner ist keine bereits im Kindergarten rot sozialisierte Funktionärin, sondern eine beruflich erfolgreiche, kluge und telegene Frau mit sozialdemokratischer Grundhaltung. Also eigentlich, ganz anders als ihre beiden deutschen SPD-Kollegen, das Role-Model einer modernen Parteiführerin. Dass Rendi-Wagner als Parteichefin trotz dieser Fertigkeiten bisher, milde gesagt, erfolglos war, hat mit einer Reihe von Fehlern zu tun, die ihr und ihren engsten Mitarbeitern unterlaufen sind. Es hat auch mit der Tatsache zu tun, dass sie, kaum zur Parteichefin gekürt, einen Wahlkampf führen musste, für den sie und ihre Partei noch nicht gerüstet waren. Zuallererst aber hat es damit zu tun, dass die SPÖ wie etliche ihrer Schwesterparteien quer durch Europa derzeit keine klaren Botschaften vermittelt. Egal ob es sich um die Klima- oder die Migrationskrise handelt, egal ob das Thema Wirtschaft oder Digitalisierung auf der Agenda steht: Immer gibt es eine andere Partei, die klarere, präzisere Antworten liefert als die Sozialdemokratie. Der Partei fehlt, wie es im Politikberaterdeutsch heißt, das „Narrativ“. Also die Begründung, warum man gerade sie und niemand anderen wählen sollte.
Man soll sich vor Prophezeiungen hüten, denn die Politik ist ähnlich wechselhaft wie das Wetter. Der ÖVP etwa wurde noch vor wenigen Jahren von Experten aller Art ihr baldiges Ende vorausgesagt, und heute ist sie stärker als SPÖ und FPÖ zusammengenommen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch die SPÖ wieder zu sich findet, und vor allem, dass die Wähler wieder zu ihr finden. Dies beispielsweise dann, wenn die Grünen als Regierungspartei nicht jene Performance liefern sollten, die sich ihre Wähler erwartet haben. Von einer solchen Entwicklung ist aber noch nichts zu sehen. Derzeit machen sich flächendeckend andere Kräfte auf dem traditionellen Wählermarkt der Sozialdemokratie breit – in Österreich, in Deutschland und anderswo. Blasse Funktionärsfavoriten an die Spitze der Bewegung zu stellen, wie eben in Deutschland geschehen, wird den Erholungsprozess nicht eben beschleunigen.
ANDREAS.KOLLER@SN.AT