Die Frau ist der Mann ist die Frau
Die Wiener Staatsoper stemmt ein Riesenprojekt: „Orlando“von Olga Neuwirth wurde erfolgreich uraufgeführt.
„Bella ciao“kontert dem Ruf nach einem Leader
Am Anfang war das Wort: androgyn. Und daraus entfalteten sich, sprossen und erblühten eine Jahrhunderte umspannende Geschichte, Musik und sogar eine ganze Oper. Olga Neuwirth komponierte sie rund um dieses merkwürdige Wesen Orlando, aber gibt es androgyne Musik? Abgesehen von Countertenören? Es gibt sie, und man kann vieles verfremden und „gendern“, und wenn eine Oper als Oratorium endet, ist das wohl auch eine Transformation. Unter allgemeinem Jubel ging am Sonntag die Uraufführung von Olga Neuwirths „Orlando“über die Bühne der Wiener Staatsoper. Nur als die Komponistin und ihre Mitlibrettistin vor den Vorhang traten, gab es ein paar Buhs, die wohl dem zweiten, schwächeren Teil der Geschichte galten.
„Orlando – Eine Biographie“hieß der Roman von Virginia Woolf, er sprengte nicht nur Geschlechterstereotypien, sondern auch die Zeiträume. Denn diese/-r Orlando kam vor vier Jahrhunderten zur Welt, als Mann, alter englischer Hochadel zur Zeit von Elizabeth I. Später wurde er Botschafter in Konstantinopel und erwachte eines Tages als Frau. Und das Dasein dieses Wesens überdauerte die Jahrhunderte, das Buch endet 1928 – weil es Virginia Woolf eben in diesem Jahr herausbrachte. Nun gibt es eine Fortsetzung bis in unsere Tage, verfasst von Catherine Filloux und Olga Neuwirth. In Musikkreisen erregte es weltweit Aufmerksamkeit, dass die Wiener Staatsoper die erste abendfüllende Oper einer Frau im großen Haus auf die Bühne bringt. „Orlando“beschäftigte Olga Neuwirth
schon, als sie als aufmüpfiger Punk das Buch in der steirischen Provinz las. Die Komponistin ist im „Hochadel“ihrer Zunft angekommen und wird weltweit aufgeführt – widerständig ist sie geblieben. Und sie ist von einer Mission beseelt, die sich auch in „Orlando“niederschlägt, nicht nur zum Vorteil dieser „Musiktheaterperformance“.
Denn die Fortschreibung des Romans gerät zu einer Reihe von Appellen, die platt klingen, obwohl – oder weil – sie die Transparente derzeitiger Massendemonstrationen zieren. „Unser Planet ist in Gefahr!“, singt der große Kinderchor. Und wenn die Menge von einem „Leader“fordert: „Mach uns wieder groß!“, hält Olga Neuwirth mit der Hymne „Bella ciao“dagegen, das macht das Finale dieser packenden Opernproduktion ein wenig diffus.
Der Aufwand ist enorm. Und dennoch überrascht es, wie schematisch Regisseurin Polly Graham an die 19 Szenen herangeht. Den Roman zu kennen ist von Vorteil, um den Überblick zu behalten. Sie habe kein Bühnenbild gewollt, sondern Raum für ihre Musik, betonte Olga Neuwirth im Vorfeld. Das führt zu Einsätzen im ganzen Saal, Trompeten von der Galerie, ein Kinderchor gar im Luster. Und dennoch gibt es eine Bilderflut in Form von Videos (Will Duke) auf flexiblen Paneelen, die Zeiten und Umgebung wiedergeben. Wenn es um den „Großen Frost“in London geht, schneit es im Video, und im Musikfluss tauchen ein paar Takte auf, die an Henry Purcells „Cold Song“erinnern. Das war eine der blendenden Ideen der Komponistin, in ihrer ausufernden Klangwelt immer wieder Zeitinseln in der Szenenfolge einzuführen mit verfremdeten Zitaten oder Einspielungen.
Besonders berührend: 1941 ertönt die Aufnahme von Bachs Doppelkonzert, die vom Naziopfer Alma Rosé und ihrem Vater Arnold Rosé erhalten ist, auf den Videowalls erscheinen Namen von KZOpfern
und zeitgeschichtliche Gräuelfotos. Die Atombombe beendet ohrenbetäubend die Kriegsjahre, das Foto des zerstörten Inneren der Wiener Staatsoper beeindruckt in anklagender Dramatik. Wenn die späten 60er-Jahre in den HippieOptimismus führen, wird es halblustig und bunt – ab dann versagt die Regie ihren Dienst. Eine ärmliche „Rockband“wird hereingeschoben, der Kinderchor erinnert an die ersten „Jazzmessen“. Danke!
Zuletzt haben sich die Geschlechterrollen und die Überwindung gesellschaftlicher Normen, wie sie Virginia Woolf vorgegeben hat, ins Regenbogen-Heute weiterentwickelt. Die Probleme bleiben ungelöst bei aller vorgeblichen Transgender-Freiheit. Auf einer Showtreppe singen Mezzosopran (weiblich), Countertenor (männlich) und Baritonblondine (beides) miteinander. Überhaupt die Besetzung: großartig und vielversprechend, was nicht alle einlösen können. Kate Lindsey ist ein/-e überaus starke/-r Orlando, ihr Schutzengel ist der fabelhafte Counter Eric Jurenas.
An den Kostümen kann man sich nicht sattstaunen, Rei Kawakubo (Comme des Garçons) hat Fantasie. Die Queen (Constance Hauman) ist fast eine Skulptur, die Transgender-Ikone Justin Vivian Bond dagegen dezent (und akustisch im Getümmel verloren). Skurrile Szenen haben die drei Poeten (Marcus Pelz, Carlos Osuna, Christian Miedl), die Ärzte (Wolfram Igor Derntl, Hans Peter Kammerer, Ayk Martirossian) und „Duke“Wolfgang Bankl. Der Chor kommentiert oder vervielfacht die Gedanken.
Über allem waltet mit ruhiger Hand Dirigent Matthias Pintscher, bewundernswert, wie er das Staatsopernorchester, aufgerundet mit Live-Elektronik und zahllosen Facetten wie E-Gitarre oder Synthesizern, in Olga Neuwirths Klangwelt souverän bändigt. Die Musik spielt alle heutigen Möglichkeiten aus, da hat der scheidende Operndirektor Dominique Meyer ein kolossales Abschiedsgeschenk hinterlassen.
Oper: „Orlando“von Olga Neuwirth: Wiener Staatsoper, bis 20. 12.