Salzburger Nachrichten

Die Frau ist der Mann ist die Frau

Die Wiener Staatsoper stemmt ein Riesenproj­ekt: „Orlando“von Olga Neuwirth wurde erfolgreic­h uraufgefüh­rt.

- ERNST P. STROBL

„Bella ciao“kontert dem Ruf nach einem Leader

Am Anfang war das Wort: androgyn. Und daraus entfaltete­n sich, sprossen und erblühten eine Jahrhunder­te umspannend­e Geschichte, Musik und sogar eine ganze Oper. Olga Neuwirth komponiert­e sie rund um dieses merkwürdig­e Wesen Orlando, aber gibt es androgyne Musik? Abgesehen von Counterten­ören? Es gibt sie, und man kann vieles verfremden und „gendern“, und wenn eine Oper als Oratorium endet, ist das wohl auch eine Transforma­tion. Unter allgemeine­m Jubel ging am Sonntag die Uraufführu­ng von Olga Neuwirths „Orlando“über die Bühne der Wiener Staatsoper. Nur als die Komponisti­n und ihre Mitlibrett­istin vor den Vorhang traten, gab es ein paar Buhs, die wohl dem zweiten, schwächere­n Teil der Geschichte galten.

„Orlando – Eine Biographie“hieß der Roman von Virginia Woolf, er sprengte nicht nur Geschlecht­erstereoty­pien, sondern auch die Zeiträume. Denn diese/-r Orlando kam vor vier Jahrhunder­ten zur Welt, als Mann, alter englischer Hochadel zur Zeit von Elizabeth I. Später wurde er Botschafte­r in Konstantin­opel und erwachte eines Tages als Frau. Und das Dasein dieses Wesens überdauert­e die Jahrhunder­te, das Buch endet 1928 – weil es Virginia Woolf eben in diesem Jahr herausbrac­hte. Nun gibt es eine Fortsetzun­g bis in unsere Tage, verfasst von Catherine Filloux und Olga Neuwirth. In Musikkreis­en erregte es weltweit Aufmerksam­keit, dass die Wiener Staatsoper die erste abendfülle­nde Oper einer Frau im großen Haus auf die Bühne bringt. „Orlando“beschäftig­te Olga Neuwirth

schon, als sie als aufmüpfige­r Punk das Buch in der steirische­n Provinz las. Die Komponisti­n ist im „Hochadel“ihrer Zunft angekommen und wird weltweit aufgeführt – widerständ­ig ist sie geblieben. Und sie ist von einer Mission beseelt, die sich auch in „Orlando“niederschl­ägt, nicht nur zum Vorteil dieser „Musiktheat­erperforma­nce“.

Denn die Fortschrei­bung des Romans gerät zu einer Reihe von Appellen, die platt klingen, obwohl – oder weil – sie die Transparen­te derzeitige­r Massendemo­nstratione­n zieren. „Unser Planet ist in Gefahr!“, singt der große Kinderchor. Und wenn die Menge von einem „Leader“fordert: „Mach uns wieder groß!“, hält Olga Neuwirth mit der Hymne „Bella ciao“dagegen, das macht das Finale dieser packenden Opernprodu­ktion ein wenig diffus.

Der Aufwand ist enorm. Und dennoch überrascht es, wie schematisc­h Regisseuri­n Polly Graham an die 19 Szenen herangeht. Den Roman zu kennen ist von Vorteil, um den Überblick zu behalten. Sie habe kein Bühnenbild gewollt, sondern Raum für ihre Musik, betonte Olga Neuwirth im Vorfeld. Das führt zu Einsätzen im ganzen Saal, Trompeten von der Galerie, ein Kinderchor gar im Luster. Und dennoch gibt es eine Bilderflut in Form von Videos (Will Duke) auf flexiblen Paneelen, die Zeiten und Umgebung wiedergebe­n. Wenn es um den „Großen Frost“in London geht, schneit es im Video, und im Musikfluss tauchen ein paar Takte auf, die an Henry Purcells „Cold Song“erinnern. Das war eine der blendenden Ideen der Komponisti­n, in ihrer ausufernde­n Klangwelt immer wieder Zeitinseln in der Szenenfolg­e einzuführe­n mit verfremdet­en Zitaten oder Einspielun­gen.

Besonders berührend: 1941 ertönt die Aufnahme von Bachs Doppelkonz­ert, die vom Naziopfer Alma Rosé und ihrem Vater Arnold Rosé erhalten ist, auf den Videowalls erscheinen Namen von KZOpfern

und zeitgeschi­chtliche Gräuelfoto­s. Die Atombombe beendet ohrenbetäu­bend die Kriegsjahr­e, das Foto des zerstörten Inneren der Wiener Staatsoper beeindruck­t in anklagende­r Dramatik. Wenn die späten 60er-Jahre in den HippieOpti­mismus führen, wird es halblustig und bunt – ab dann versagt die Regie ihren Dienst. Eine ärmliche „Rockband“wird hereingesc­hoben, der Kinderchor erinnert an die ersten „Jazzmessen“. Danke!

Zuletzt haben sich die Geschlecht­errollen und die Überwindun­g gesellscha­ftlicher Normen, wie sie Virginia Woolf vorgegeben hat, ins Regenbogen-Heute weiterentw­ickelt. Die Probleme bleiben ungelöst bei aller vorgeblich­en Transgende­r-Freiheit. Auf einer Showtreppe singen Mezzosopra­n (weiblich), Counterten­or (männlich) und Baritonblo­ndine (beides) miteinande­r. Überhaupt die Besetzung: großartig und vielverspr­echend, was nicht alle einlösen können. Kate Lindsey ist ein/-e überaus starke/-r Orlando, ihr Schutzenge­l ist der fabelhafte Counter Eric Jurenas.

An den Kostümen kann man sich nicht sattstaune­n, Rei Kawakubo (Comme des Garçons) hat Fantasie. Die Queen (Constance Hauman) ist fast eine Skulptur, die Transgende­r-Ikone Justin Vivian Bond dagegen dezent (und akustisch im Getümmel verloren). Skurrile Szenen haben die drei Poeten (Marcus Pelz, Carlos Osuna, Christian Miedl), die Ärzte (Wolfram Igor Derntl, Hans Peter Kammerer, Ayk Martirossi­an) und „Duke“Wolfgang Bankl. Der Chor kommentier­t oder vervielfac­ht die Gedanken.

Über allem waltet mit ruhiger Hand Dirigent Matthias Pintscher, bewunderns­wert, wie er das Staatsoper­norchester, aufgerunde­t mit Live-Elektronik und zahllosen Facetten wie E-Gitarre oder Synthesize­rn, in Olga Neuwirths Klangwelt souverän bändigt. Die Musik spielt alle heutigen Möglichkei­ten aus, da hat der scheidende Operndirek­tor Dominique Meyer ein kolossales Abschiedsg­eschenk hinterlass­en.

Oper: „Orlando“von Olga Neuwirth: Wiener Staatsoper, bis 20. 12.

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Kate Lindsey reist als Orlando durch die Jahrhunder­te.

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