Salzburger Nachrichten

Wenn der Arztbesuch krank macht

Ein Zuviel an medizinisc­hen Leistungen macht dem Gesundheit­ssystem Probleme. Jetzt startet eine Initiative gegen die Überversor­gung.

- ANTON PRLIC

Christoph Dachs kennt das Problem aus seinem Ordination­salltag. Er habe Patienten, die häufig wegen Nebenhöhle­nentzündun­gen zu ihm kämen, sagt der Präsident der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Allgemeinm­edizin (ÖGAM). „Der Patient sagt dann, dass er gleich ein Antibiotik­um will, weil alles andere bei ihm nichts hilft. Wenn er so darauf fixiert ist, ist es schwer, ihm zu vermitteln, dass man lieber abwarten sollte.“

Hilft’s nix, schadet’s nix: Dieser Leitsatz trifft in der Medizin nicht zu. Medizinisc­he Überversor­gung ist ein Problem für unser Gesundheit­ssystem. Medikament­e, auch Untersuchu­ngen, können negative Effekte mit sich bringen. Bei jeder Behandlung müsse eine Nutzen-Risiko-Abschätzun­g durchgefüh­rt werden, sagt Anna Glechner vom Ärzteinfor­mationszen­trum der Donau-Universitä­t Krems. „Man darf Gesundheit­sversorgun­g nicht mit einem All-you-can-eat-Buffet verwechsel­n. Nur weil es nichts kostet, heißt es nicht, dass man unbegrenzt konsumiere­n soll.“

Die freizügige Vergabe von Antibiotik­a sei ein Paradebeis­piel für medizinisc­he Überversor­gung. Antibiotik­a bekämpfen schädliche Bakterien effektiv, aber sie verursache­n viele Nebenwirku­ngen. Nach Angaben der EU-Seuchenbeh­örde sterben 33.000 Personen pro Jahr in den EU-Staaten, weil sie mit einem antibiotik­aresistent­en Keim infiziert wurden.

Nebenwirku­ngen gebe es aber nicht nur bei Medikament­en, sagt Anna Glechner. Auch Vorsorgeun­tersuchung­en können mehr schaden, als sie nutzen. „Es gibt keine perfekten Tests. Das bedeutet, dass bei jeder Untersuchu­ng die Gefahr eines falsch-positiven Ergebnisse­s besteht. Und manchmal werden Sachen entdeckt, die nie Beschwerde­n verursacht hätten und trotzdem behandelt werden.“

Das Cochrane-Institut, für das Anna Glechner tätig ist, hat sich die Auswirkung­en von Rückenunte­rsuchungen näher angesehen. So klagt jeder vierte Mensch über Rückenbesc­hwerden. Die meisten Probleme seien auf eine zu schwache Muskulatur aufgrund von Bewegungsm­angel zurückzufü­hren. Trotzdem würden zur Abklärung häufig Röntgenunt­ersuchunge­n gemacht, sagt Glechner. „Auf den Röntgenauf­nahmen werden dann oft Bandscheib­enveränder­ungen gefunden, weil die fast jeder Mensch ab einem gewissen Alter hat. Die haben mit den Beschwerde­n möglicherw­eise gar nichts zu tun. Trotzdem kann so ein Befund eine völlig unnötige Operation zur Folge haben.“

Medizinisc­he Überversor­gung sei ein weltweites Problem, sagt Glechner. Brasilien habe etwa eine Kaiserschn­ittrate von 90 Prozent. Über die Ursachen von Überversor­gung gibt eine Studie aus Bayern Aufschluss. Dort wurden 6647 Arztpraxen untersucht. Ein Viertel der Praxen verschrieb bei 44 Prozent aller grippalen Infekte Antibiotik­a. Bei einem weiteren Viertel wurden nur bei acht Prozent aller Infekte Antibiotik­a verordnet. Praxen mit besonders hohem Patientena­ufkommen verschreib­en besonders viele Antibiotik­a.

Zeit ist also ein wesentlich­er Faktor gegen medizinisc­he Überversor­gung. Das zeige auch eine Studie aus Norwegen, sagt Anna Glechner. „Dort steigt die Verschreib­ungsrate bei Ärzten, die mehr als 45 Patienten pro Tag behandeln. Bei weniger als 25 Patienten sinkt die Rate.“

Für die Medizin sei die mangelnde Zeit, die man für Patienten habe, ein Spannungsf­eld, über das man nachdenken müsse, sagt Allgemeinm­ediziner und ÖGAM-Präsident Christoph Dachs. „40 bis 60 Patienten am Tag sind in meiner Ordination normal. In Dänemark sind es zwischen 12 und 15 Patienten. Ich versuche, mir für jeden Patienten Zeit zu nehmen. Aber ich verstehe, wenn Mediziner frustriert sind, weil sie das Gefühl haben, dass sie nur Patienten durchschle­usen.“

Die ÖGAM setzt nun eine Initiative gegen die medizinisc­he Überversor­gung. Eine Broschüre soll Patienten auf die fünf größten Probleme dieses Phänomens hinweisen. Die Broschüre listet neben Antibiotik­a und Röntgenauf­nahmen auch PSABluttes­ts auf, mit denen Prostatakr­ebs frühzeitig erkannt werden soll. Dieser Test liefere besonders häufig falsche Ergebnisse, sagt Christoph Dachs. Es müsse gut abgewogen werden, ob man ihn durchführe. „Wir Ärzte sollten solche Entscheidu­ngen gemeinsam mit den Patienten treffen. Wir können das Problem der Überversor­gung nur gemeinsam angehen.“

„Medizin nicht unbegrenzt konsumiere­n.“

Anna Glechner, Cochrane-Institut

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BILD: SN/WOLFGANG GLECHNER Antibiotik­a bekämpfen Bakterien und keine Viren. Trotzdem werden sie bei einer viralen Grippeerkr­ankung häufig verordnet.
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