Wenn der Arztbesuch krank macht
Ein Zuviel an medizinischen Leistungen macht dem Gesundheitssystem Probleme. Jetzt startet eine Initiative gegen die Überversorgung.
Christoph Dachs kennt das Problem aus seinem Ordinationsalltag. Er habe Patienten, die häufig wegen Nebenhöhlenentzündungen zu ihm kämen, sagt der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM). „Der Patient sagt dann, dass er gleich ein Antibiotikum will, weil alles andere bei ihm nichts hilft. Wenn er so darauf fixiert ist, ist es schwer, ihm zu vermitteln, dass man lieber abwarten sollte.“
Hilft’s nix, schadet’s nix: Dieser Leitsatz trifft in der Medizin nicht zu. Medizinische Überversorgung ist ein Problem für unser Gesundheitssystem. Medikamente, auch Untersuchungen, können negative Effekte mit sich bringen. Bei jeder Behandlung müsse eine Nutzen-Risiko-Abschätzung durchgeführt werden, sagt Anna Glechner vom Ärzteinformationszentrum der Donau-Universität Krems. „Man darf Gesundheitsversorgung nicht mit einem All-you-can-eat-Buffet verwechseln. Nur weil es nichts kostet, heißt es nicht, dass man unbegrenzt konsumieren soll.“
Die freizügige Vergabe von Antibiotika sei ein Paradebeispiel für medizinische Überversorgung. Antibiotika bekämpfen schädliche Bakterien effektiv, aber sie verursachen viele Nebenwirkungen. Nach Angaben der EU-Seuchenbehörde sterben 33.000 Personen pro Jahr in den EU-Staaten, weil sie mit einem antibiotikaresistenten Keim infiziert wurden.
Nebenwirkungen gebe es aber nicht nur bei Medikamenten, sagt Anna Glechner. Auch Vorsorgeuntersuchungen können mehr schaden, als sie nutzen. „Es gibt keine perfekten Tests. Das bedeutet, dass bei jeder Untersuchung die Gefahr eines falsch-positiven Ergebnisses besteht. Und manchmal werden Sachen entdeckt, die nie Beschwerden verursacht hätten und trotzdem behandelt werden.“
Das Cochrane-Institut, für das Anna Glechner tätig ist, hat sich die Auswirkungen von Rückenuntersuchungen näher angesehen. So klagt jeder vierte Mensch über Rückenbeschwerden. Die meisten Probleme seien auf eine zu schwache Muskulatur aufgrund von Bewegungsmangel zurückzuführen. Trotzdem würden zur Abklärung häufig Röntgenuntersuchungen gemacht, sagt Glechner. „Auf den Röntgenaufnahmen werden dann oft Bandscheibenveränderungen gefunden, weil die fast jeder Mensch ab einem gewissen Alter hat. Die haben mit den Beschwerden möglicherweise gar nichts zu tun. Trotzdem kann so ein Befund eine völlig unnötige Operation zur Folge haben.“
Medizinische Überversorgung sei ein weltweites Problem, sagt Glechner. Brasilien habe etwa eine Kaiserschnittrate von 90 Prozent. Über die Ursachen von Überversorgung gibt eine Studie aus Bayern Aufschluss. Dort wurden 6647 Arztpraxen untersucht. Ein Viertel der Praxen verschrieb bei 44 Prozent aller grippalen Infekte Antibiotika. Bei einem weiteren Viertel wurden nur bei acht Prozent aller Infekte Antibiotika verordnet. Praxen mit besonders hohem Patientenaufkommen verschreiben besonders viele Antibiotika.
Zeit ist also ein wesentlicher Faktor gegen medizinische Überversorgung. Das zeige auch eine Studie aus Norwegen, sagt Anna Glechner. „Dort steigt die Verschreibungsrate bei Ärzten, die mehr als 45 Patienten pro Tag behandeln. Bei weniger als 25 Patienten sinkt die Rate.“
Für die Medizin sei die mangelnde Zeit, die man für Patienten habe, ein Spannungsfeld, über das man nachdenken müsse, sagt Allgemeinmediziner und ÖGAM-Präsident Christoph Dachs. „40 bis 60 Patienten am Tag sind in meiner Ordination normal. In Dänemark sind es zwischen 12 und 15 Patienten. Ich versuche, mir für jeden Patienten Zeit zu nehmen. Aber ich verstehe, wenn Mediziner frustriert sind, weil sie das Gefühl haben, dass sie nur Patienten durchschleusen.“
Die ÖGAM setzt nun eine Initiative gegen die medizinische Überversorgung. Eine Broschüre soll Patienten auf die fünf größten Probleme dieses Phänomens hinweisen. Die Broschüre listet neben Antibiotika und Röntgenaufnahmen auch PSABluttests auf, mit denen Prostatakrebs frühzeitig erkannt werden soll. Dieser Test liefere besonders häufig falsche Ergebnisse, sagt Christoph Dachs. Es müsse gut abgewogen werden, ob man ihn durchführe. „Wir Ärzte sollten solche Entscheidungen gemeinsam mit den Patienten treffen. Wir können das Problem der Überversorgung nur gemeinsam angehen.“
„Medizin nicht unbegrenzt konsumieren.“
Anna Glechner, Cochrane-Institut