Der Ungeduldige
Frankreichs Präsident kennt keine Tabus. Warum Emmanuel Macron die europäische Selbstgewissheit stört.
BRÜSSEL, PARIS. Die ersten Abgesänge waren schon zu lesen. Emmanuel Macron, seit Mai 2017 Präsident der Atommacht Frankreich, stand nur zwei Jahre nach Amtsantritt vor dem Ende seiner großen Pläne. Eine riesige Protestwelle fegte durch das Land. Ihr Markenzeichen: gelbe Warnwesten. Die Demonstranten wehrten sich gegen den abgehobenen Führungsstil eines elitären Präsidenten. Auslöser war eine Erhöhung der Spritpreise.
Macron (42) bewältigte die Krise – und meldete sich Ende August mit vollem Tempo als Gastgeber beim G7-Gipfel in Biarritz zurück. Seine zuvor verkündete neueste Vision: eine Neuausrichtung der strategischen Beziehungen Europas zu Russland. Es brauche einen „starken und fordernden Dialog“, bevor der Kreml Richtung China abdrifte. Wie so oft bei Macrons sturmwindgleichen Initiativen fand er hinter vorgehaltener Hand auch Zustimmung. Allein: Der Ton und die drängende Gebärde, sozusagen das dauernde Drücken des politischen Panikknopfes, vertiefe nur die Gräben im eigenen Lager, hieß es.
Die Ergebnisse der Methode Macron sind durchmischt. Beispiel
Russland: Der soeben zelebrierte Ukraine-Gipfel zeigte einmal mehr, dass Kreml-Herrscher Wladimir Putin an einem Neustart nicht interessiert ist – Macron hin, Macron her.
Andererseits stellt sich zuweilen auch unerwarteter Erfolg ein. Die kühne Kritik an der Planungslosigkeit der NATO („hirntot“) versetzte die Partner in Schockstarre, drehte aber den amerikanischen Amtskollegen um. Donald Trump, der einst mit einem Austritt aus dem „obsoleten“Bündnis gedroht hatte, gefiel sich beim Gipfel in London als Verteidiger des Bündnisses – der Schrecken aus Washington löste sich angesichts des französischen Präsidenten in Wohlgefallen auf.
Und das Herzstück der Macron’schen Außenpolitik? Die Totalüberholung der Europäischen Union? Es lohnt sich, hinter das traditionell etwas bombastische Auftreten des Franzosen zu blicken. Emmanuel Macron folgt seit seiner Vereidigung einer klaren und immer ungeduldiger vertretenen Strategie. Jean-Claude Juncker, Ex-Präsident der EU-Kommission, hat sie als „Weltpolitikfähigkeit der EU“adaptiert. Seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen, eine ehemalige Verteidigungsministerin, will sie mit ihrer „geopolitischen Kommission“fortsetzen. Macron selbst spricht lieber von „europäischer Souveränität“und beansprucht Führerschaft.
Seine Vorstellung gilt einer Zukunft, die weniger von einem abdriftenden Amerika abhängt. „Wenn wir nicht aufwachen, nehmen wir das beträchtliche Risiko in Kauf, dass wir geopolitisch verschwinden oder zumindest die Kontrolle über unser Schicksal verlieren“, sagte er in einem Interview.
„Europa muss sich als globale Macht verstehen.“Emmanuel Macron, Präsident
Aus Macrons Sicht umfasst europäische Souveränität die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung eigener Interessen: Werte, Sicherheit, Privatsphäre, Daten, Industriepolitik, Klima, Handel, Finanzen.
Dazu aber braucht es vereinte Kräfte. Daher Macrons anfängliche Appelle an Deutschland, gemeinsam die EU zu reformieren: Währungsunion, Sicherheitsunion, Anpassung der EU-Verträge vor einer nächsten Erweiterung.
Weit ist der Franzose nicht gekommen. Berlin beharrt auf dem Status quo. Wenigstens eine Zukunftskonferenz auf EU-Ebene soll es nun geben.
Doch Macron ist nicht zu unterschätzen. Bei den Wahlen zum Europaparlament hat er sein Ziel erreicht: Konservative und Sozialdemokraten büßten ihre Vormacht ein. Seine liberale Bewegung spielt nun gemeinsam mit den Grünen eine nie da gewesene Rolle.
Mit Ursula von der Leyen hat er eine strategisch ähnlich denkende Verbündete auf den Chefsessel der Kommission gehievt. Christine Lagarde, eine modern-liberale Landsfrau, führt die Europäische Zentralbank. Charles Michel, ein liberaler Freund aus Belgien, ist EU-Ratspräsident und Thierry Breton, ein französischer IT-Manager, wird als EUKommissar den Aufbau einer europäischen Verteidigung überblicken.
Emmanuel Macron stößt in ein Führungsvakuum. Großbritannien springt ab. Deutschland ist versteinert, Italien und Frankreich sind mit sich beschäftigt. Genug Raum für einen, der den Mut zu Ideen hat und auch wagt, zu handeln. Vorerst aber ist Emmanuel Macron wieder einmal zu Hause im Einsatz: Ein Generalstreik gegen die Pensionsreform legt Frankreich still.