„Es ist eine komische Wahl“
Bei der Parlamentswahl in Großbritannien dominiert der Brexit. Die britische Politologin Eunice Goes erklärt, warum die EU-Befürworter untergehen und Labour kaum eine Chance hat.
Zum dritten Mal in fünf Jahren wählen die Britinnen und Briten ein neues Parlament. Die Politologin Eunice Goes von der RichmondUniversität rechnet mit einem heftigen Rechtsruck.
SN: Bei der Unterhauswahl in dieser Woche geht es vor allem um den Brexit. Wird es eine Art zweite Abstimmung über den EU-Austritt? Eunice Goes: Es ist eine Brexit-Wahl, aber kein Referendum. Wer wählen geht, denkt auch über andere Dinge nach, etwa über die Frage, ob das Leben schwieriger geworden ist. Das nationale Gesundheitssystem bereitet laut einer aktuellen Umfrage den Briten die größte Sorge. Viele Themen werden die Wahl beeinflussen, aber der Brexit wird ziemlich zentral sein.
SN: Warum hört man so wenig von den 48 Prozent der Briten, die in der EU bleiben wollten? Sie sind durchaus präsent: Die Liberalen fordern, den Austritt zurückzuziehen; in Teilen Londons und den Uni-Städten überwiegen die Remainers, ebenso in Schottland. Auch die Grünen sprechen sich für den Verbleib in der EU aus. Warum das nicht so sichtbar ist, liegt an den britischen Mainstream-Medien, die sich wenig darum kümmern.
SN: Wen wählen die Remainers? Die Frage ist, ob alle, die für den Verbleib gestimmt haben, wählen gehen, und ob sie taktisch wählen. Diejenigen, die das Ergebnis des Referendums akzeptiert haben und für einen geordneten Austritt sind, haben die Nase voll. Sie sagen: „Lasst uns das erledigen, wir müssen uns auf wichtige Dinge konzentrieren.“Premier Boris Johnson wollte einfach Brexit-Wahlen. Es wird aber komplizierter werden.
SN: Warum? Das Vereinigte Königreich ist ein geteiltes Land – zwischen Generationen, zwischen Stadt und Land, zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten. Seit drei Jahren ist nur der Brexit diskutiert worden, während das Land verkommt. Der Brexit hat alles in Beschlag genommen. Es ist eine komische Wahl.
SN: Die Prognosen für Labour sehen düster aus. Ist die neutrale Haltung von Parteichef Jeremy Corbyn ein Problem für Labour? Er ist eine Belastung für die Partei, vor allem in jenen Gegenden, die für den Brexit sind. Die meisten Labour-Kandidaten haben in ihren Foldern kein Bild von Corbyn. Es geht nicht so sehr um Europa, sondern darum, dass er als nicht fähig für das Amt des Premierministers gilt, als nicht patriotisch, als antisemitisch. Trotzdem hat er noch immer eine starke Basis, besonders bei jungen Wählern, und füllt bei seinen Auftritten Hallen. Er versucht sich als „anderer, unhierarchischer Politiker“darzustellen, der zuhört.
SN: In den einstigen Hochburgen der Partei hilft ihm das wenig. Labour war in Schottland stark. 2015 hat Corbyns Vorgänger Ed Miliband Schottland verloren. Dort wurde nicht einmal um Stimmen geworben, weil man sie für selbstverständlich hielt. Das Gleiche ist im Nordosten passiert. Corbyn ist ein Problem, aber die Schwierigkeiten von Labour gab es vor ihm.
SN: Was wird nach dem 12. Dezember mit ihm? Wenn Labour abstürzt, wird er wohl sofort zurücktreten. Seine einzige Hoffnung sind die Jungen.
SN: Die Umfragen sehen die Tories vorn. Was bedeutet ein Wahlsieg von Boris Johnson? Wenn die Tories gewinnen, gibt es eine sehr rechte Regierung, die entschlossen ist, das Land aus der EU zu führen. Bei den Konservativen gibt es eine kritische Masse von Menschen, die für einen No-DealBrexit sind und sich zusammentun. Die Politiker, die jetzt die Partei dominieren, sind obsessive Euroskeptiker, sie hassen die EU. Sie leben noch in der Welt, als Großbritannien ein Empire gewesen ist. Sie hängen an der ganzen Geschichte der britischen Außergewöhnlichkeit. Was sie wollen, ist das berühmte „Singapur an der Themse“mit deregulierten Märkten. Ich glaube nicht, dass Johnson ein gemäßigter Konservativer ist, wie es oft heißt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er persönlich an irgendetwas glaubt. Er will Macht; und dafür ist er bereit alles zu tun. Die Konservativen, die jetzt am Ruder sind, sagen unglaubliche Dinge über Armut und versprechen harte Gesetze gegen Immigration aus der EU.
SN: Aber es gibt doch Spielregeln auch nach dem Austritt. Das scheint die Konservativen nicht zu kümmern. Solange sie eine Mehrheit haben, können sie alles beschließen.
SN: Warum liegen die Liberaldemokraten so schlecht? Ihr Hauptproblem war, die EUWahl, bei der sie Nummer 2 wurden, überzuinterpretieren. Sie dachten, sie könnten die RemainWähler zu sich holen, die bisher Labour gewählt hatten und von Corbyn desillusioniert sind. Aber anstatt für ein zweites Referendum einzutreten, verlangen sie die Rücknahme des EU-Austritts. Damit haben sie es übertrieben. Sie schätzen die normalen Wähler falsch ein. Die haben ein Gefühl für Fair Play und finden, dass man es respektieren muss, wenn 52 Prozent für den EU-Austritt stimmen. Das Austrittsansuchen zurückzuziehen wirkt undemokratisch und elitär. Außerdem hat Labour im Sommer die Position gewechselt und sich als bester Garant für ein zweites Referendum präsentiert. Auch das hat die Liberalen Unterstützung gekostet.
SN: Ist diese Wahl der Anfang vom Ende des Vereinigten Königreichs? Kann sein. Seit 2016 wird darüber diskutiert. Sollte es zu einem harten Brexit oder einem No Deal kommen, wird der Bruch eher früher als später passieren. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon bereitet sich auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vor, weil 60 Prozent der Schotten für den Verbleib in der EU gewesen sind. Auch die Politik in Nordirland wird sich verändern, sollte es eine Grenze zu Irland geben. Es gibt die Wahrnehmung, dass die ganze Malaise mit Europa ein rein „englisches Phänomen“ist, ausgelöst durch den englischen Nationalismus.
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