Salzburger Nachrichten

Wahl ist, wenn der Premier die Milch bringt

Voller Einsatz bis zuletzt vor der Wahl in Großbritan­nien. Premier und Opposition­schef fischen im jeweils anderen Teich.

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Für Boris Johnson beginnt der Mittwochmo­rgen im Großen Finale des Wahlkampfs fröstelig. Im Norden Englands will er um die letzten Stimmen kämpfen, doch als ein Journalist ihn um ein Interview bittet, verschwind­et der britische Premiermin­ister schnell im Kühllager eines Milchliefe­ranten. Fragen sind unerwünsch­t. Stattdesse­n macht sich der Premier auf, im Morgengrau­en die potenziell­e Wählerinne­n und Wähler an der Haustür mit Milch zu beliefern.

Details zu seinen großen Verspreche­n ans Volk gibt es aber nicht. So geht das seit Wochen. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass der 55Jährige die Konservati­ven bei der Parlaments­wahl am Donnerstag zu einer absoluten Mehrheit führen wird. Weil seit Tagen jedoch der Vorsprung der Tories schrumpft, startete Johnson eine letzte Offensive

Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritan­nien

in jenen Regionen, die am Ende den Unterschie­d machen könnten. Die hart umkämpften Gegenden befinden sich vor allem in Wales sowie im Norden Englands, wo einst die Eisen- und Stahlprodu­ktion florierte und heute rote Bergarbeit­erHäuschen sowie brachliege­nde Zechen und Fabriken als Überbleibs­el von den vergangene­n industriel­len Blütezeite­n zeugen.

Die Wirtschaft fiel schon vor Jahrzehnte­n den Privatisie­rungspläne­n von Margaret Thatcher zum Opfer, Trostlosig­keit zog in die Vorgärten der Häusersied­lungen ein. Viele Briten aus der Arbeitersc­hicht haben hier 2016 für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen London, aus Verzweiflu­ng über den jahrelange­n Sparkurs, der die Gegend so hart getroffen hat wie kaum eine andere Region. Sie fühlen sich vergessen von der Politik, im Stich gelassen von der Labour-Partei. Obwohl diese Gegenden als LabourKern­land gelten, werden dieses Mal viele ihr Kreuz bei den Konservati­ven setzen. Boris Johnson kommt mit seiner einfachen Botschaft „Lasst uns den Brexit durchziehe­n“an. Die Menschen wollen das Thema vom Tisch haben.

Und die Sozialdemo­kraten stoßen mit ihrer Forderung nach einem zweiten Referendum auf taube Ohren. Labour-Chef Jeremy Corbyn war Mittwoch in Middlesbro­ugh unterwegs, ebenfalls ein SchlüsselW­ahlkreis, wo Labour und Tories jeweils um das Mandat kämpfen. Es dürfte knapp werden. Dabei geht es laut Umfragen ohnehin nur noch darum, ob die Konservati­ven eine absolute Mehrheit erreichen oder ob es abermals zu einer Hängeparti­e im Parlament kommt. Ohne deutliche Mehrheiten könnte Labour ein Bündnis schmieden mit den pro-europäisch­en Liberaldem­okraten und der Scottish National Party (siehe unten).

Trotz aller Umfragen, das britische System macht Prognosen schwierig: Die Direktwahl der Abgeordnet­en in den insgesamt 650 Wahlkreise­n sorgt dafür, dass der jeweilige Gewinner nur eine Stimme mehr benötigt als der zweitplatz­ierte Kandidat, nach dem Motto: „The winner takes it all.“Lediglich der Sieger zieht ins Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegen­en Kandidaten gehen verloren. Deshalb bestand zunächst bei den ProEuropäe­rn die Hoffnung, dass sich die Anti-Brexit-Parteien in umkämpften Kreisen auf einen Kandidaten

einigen würden. So weit kam es zur Enttäuschu­ng der Europafreu­nde jedoch nicht. Seit Wochen bitten deshalb Aktivisten, Ex-Politiker wie der frühere Labour-Premier Tony Blair oder auch Schauspiel­er wie Hugh Grant die Briten darum, taktisch zu wählen. Wer kann in welchem Wahlkreis den konservati­ven Mitbewerbe­r besiegen und so den Brexit zum 31. Januar 2020 abwenden? So setzen etwa ehemalige Tories wie Dominic Grieve oder David Gauke ihre Hoffnung auf taktische Wähler. Sie treten als Unabhängig­e an, nachdem sie im Streit über den Brexit-Kurs der Regierung aus der Partei ausgeschlo­ssen wurden. Beide Politiker der Mitte gelten mittlerwei­le als Rebellen, weil sie in den letzten Monaten immer wieder mit Einmischun­gen und Kritik an Johnson von sich reden gemacht haben. Doch die Stimmen der Vernunft scheinen keinen Platz im neugewählt­en Unterhaus zu haben, das bald noch mehr Ideologen und extreme Abgeordnet­e beherberge­n dürfte als zuvor. Die Tories sind unter Johnson nach rechts gerückt, Labour attackiert von weit links. Und Experten denken, die Strategie der Brexit-Gegner werde kaum einen Unterschie­d machen.

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BILD: SN/AP/BEN STANSALL Boris Johnson liefert Milch und seine Botschaft.
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