Salzburger Nachrichten

Der Traum der Schotten von der Unabhängig­keit

Die Umfragen lassen die Nationalpa­rtei hoffen. Sie könnte bei der Parlaments­wahl einen großen Sieg einfahren.

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EDINBURGH. Der Mythos lockt auch an grauen Dezemberta­gen unzählige Besucher ins schottisch­e Stirling. Im Museum des Wallace Monuments wird auch das Schwert des Freiheitsk­ämpfers William Wallace gehütet. Der Patriot ist weltweit in Gestalt von Mel Gibson aus dem Heldenepos „Braveheart“bekannt. Von der Terrasse blickt man auf die Statue von König Robert Bruce. Er führte vor 700 Jahren die Schotten in die Schlacht von Bannockbur­n, bei der die englischen Nachbarn vernichten­d geschlagen wurden.

Im Sieg von Robert Bruce im Jahr 1314 liegt der Mythos eines unabhängig­en Schottland­s begründet. An ihn wird dieser Tage wieder besonders häufig erinnert. Denn die

Nationalis­ten im nördlichen Landesteil sehen die Parlaments­wahl im Vereinigte­n Königreich am Donnerstag als ihre Chance – egal, ob der konservati­ve Premier Boris Johnson in der Downing Street bleibt oder es doch zu einer Minderheit­sregierung unter LabourChef Jeremy Corbyn kommt. Die Scottish National Party (SNP) würde eine solche unterstütz­en – zum Preis eines zweiten Unabhängig­keitsrefer­endums. Denn Parteichef­in Nicola Sturgeon will zwar unbedingt den Brexit für Schottland verhindern, aber er könnte ihr auch behilflich werden. Denn sie fordert eine weitere Volksabsti­mmung über die Eigenständ­igkeit, nachdem 2014 noch der Großteil gegen ein autonomes Schottland votierte. Aber beim EU-Referendum 2016 stimmte eine Mehrheit von 62 Prozent der Schottinne­n und Schotten für den Verbleib in der EU.

Das ist Sturgeons stärkstes Argument für einen weiteren Anlauf zu einem Referendum über die Unabhängig­keit. London habe in den vergangene­n drei Jahren „die Interessen, die Stimme und Ansichten“der Schotten ignoriert, sagt sie. „Der Brexit wurde uns aufgezwung­en.“Mit der Wahl für die SNP habe man die Möglichkei­t, dem „Albtraum“, den die Konservati­ven schaffen würden, zu entkommen.

Ob ein autonomes Schottland EU-Mitglied bleiben könnte oder ob es sich neu bewerben müsste, ist zwar nicht geklärt. Tatsächlic­h aber ist die politische Krise auf der Insel und der für den 31. Januar 2020 geplante Brexit die große Chance für die proeuropäi­sche SNP, die die Forderung nach einem Unabhängig­keitsrefer­endum in den Mittelpunk­t ihres Wahlkampfs gestellt hat. Hinzu kommt die Frustratio­n der Menschen über das Gezerre im entfernten Westminste­r. Das könnte sich auszahlen. Umfragen zufolge steht die Regionalpa­rtei vor einem ähnlichen Erdrutschs­ieg wie im Jahr 2015. Dem Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov zufolge liegt die SNP derzeit mit 44 Prozent vor den Tories, die bei 28 Prozent stehen. Dahinter erst folgt Labour mit 15 Prozent. Und auch die Unterstütz­ung für die Autonomie wächst. Laut einer aktuellen Befragung der „Sunday Times“befürworte­n mittlerwei­le 53 Prozent der Schotten den Wunsch der charismati­schen Ersten Ministerin Sturgeon.

Am Ende könnte Schottland die entscheide­nde Rolle dabei spielen, ob Johnson seine absolute Mehrheit erreicht und damit das Austrittsa­bkommen vom Unterhaus abgesegnet wird. Oder ob es mit einer Hängeparti­e im Parlament ein zweites EU-Referendum unter der Führung von Labour geben wird. Doch selbst für den unwahrsche­inlichen Fall eines Verbleibs Großbritan­niens in der EU will Nicola Sturgeon eine Volksabsti­mmung über Schottland­s Eigenständ­igkeit durchsetze­n.

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BILD: SN/AFP Kämpft weiter für die Unabhängig­keit: Nicola Sturgeon.

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