Die Folgen der Flaute
Wenige Gesetze, keine Entscheidungen: Ibiza brachte das politische Leben zum Stillstand.
WIEN. Die Beamtenregierung unter Führung von Kanzlerin Brigitte Bierlein hat das Verwalten der Republik auf ihre Fahnen geschrieben und bisher keine großen politischen Akzente gesetzt. Sie kann sich schließlich auf keinen Wählerauftrag berufen und hat auch kein Programm, für das sie gewählt wurde. Experten befürchteten schon im Mai angesichts der Ibiza-Krise und der sich abzeichnenden Neuwahl „ein Jahr Reformstau“. Wie stark ist die politische Lähmung tatsächlich? Was steht in Österreich alles still und was sind die Folgen der Entscheidungsflaute?
3 statt 42
Deutlich lässt sich der Stillstand an der Zahl der Regierungsvorlagen ablesen, wie Werner Zögernitz, Präsident des Instituts für Parlamentarismus und Demokratiefragen, im SN-Gespräch vorrechnet: „In der Regierung Bierlein sind von 1. Juni bis Ende Oktober drei Regierungsvorlagen eingelangt, zwei Gesetze und ein Staatsvertrag. Im selben Zeitraum im Jahr davor waren es 42 Regierungsvorlagen, davon 32 Gesetzesvorlagen und zehn Staatsverträge.“Schlussfolgerung des Experten: „Daher muss ein gewisser Rückstau da sein.“Normalerweise kommen drei Viertel der Gesetze über Regierungsvorlagen – „doch da ist praktisch nichts gekommen“. Man sehe, „dass Regierung mehr ist als bloßes Verwalten“.
Intransparenz
Das Parlament war im freien Spiel der Kräfte mit wechselnden Mehrheiten sehr aktiv. „Was im Parlament – teilweise über Nacht – beschlossen wurde, war oft höchst intransparent“, moniert Parlamentarismusexperte Zögernitz. Bei Regierungsvorlagen habe man üblicherweise eine lange Vorbereitung und ein Begutachtungsverfahren. „Dieser lange transparente Teil ist weggefallen, das scheint mir das größte Problem zu sein.“Auch Übergangskanzlerin Brigitte Bierlein meinte im SN-Interview, sie halte es für „rechtsstaatlich mitunter wenig erfreulich, wenn Initiativanträge – wie es ja gang und gäbe ist – im letzten Moment beschlossen werden“.
Freies (teures) Spiel
Das freie Spiel der Kräfte im Parlament war auch heuer teuer. Die daraus folgenden Beschlüsse bedeuten Zusatzausgaben von 660 Mill. Euro pro Jahr, dazu kommen noch dynamische Folgeeffekte vor allem bei den Pensionen, wie Wifo-Experte Hans Pitlik den SN erklärt. „Das ist generell etwas, was man feststellen kann: Wenn es keine Regierungsdisziplin im Parlament gibt, wird es üblicherweise teuer. Das ist keine Besonderheit Österreichs.“
Stillstandskosten
Wenn es ein Dreivierteljahr keine aktive Regierung gibt, bedeutet das, dass bei allen wesentlichen Strukturreformprojekten nichts zustande kommt – von der Klimapolitik über die Steuerreformpolitik bis zur Föderalismusreform. Die Kosten des Stillstands bzw. der Nichtreformen lassen sich laut dem Wifo-Experten Pitlik nur „sehr schwer quantifizieren“. Zudem stelle sich die Frage, ob die alte Regierung die Reformen tatsächlich in Angriff genommen hätte. „So übermäßig ambitioniert schien sie auch nicht gewesen zu sein“, merkt der Wirtschaftsexperte an. Wie es sich auswirkt, dass wichtige Reformen nicht angegangen wurden, lässt sich kaum quantifizieren. Fest steht nur: „Jede zeitliche Verzögerung wird mit Sicherheit etwas kosten.“
Sparregierung?
In finanzieller Hinsicht gebe es aber auch einen positiven Effekt, sagt Pitlik: „Die Übergangsregierung hat sich bei den Ausgaben zurückgehalten“, etwa bei den Werbeausgaben. Im dritten Quartal hatte die Übergangsregierung tatsächlich das Budget für Inserate um ein Drittel gekürzt. Im Kanzleramt sanken die Werbeausgaben sogar um 93 Prozent von 920.000 auf 65.000 Euro.
Demokratieexperte Zögernitz relativiert den Jubel über die schwächer besetzten und damit günstigeren Ministerbüros der Übergangsregierung. Wenn keine Gesetze vorbereitet würden, sondern nur verwaltet werde, „ist es logisch, dass die Büros kleiner sind“.
Generell habe die große Ausgabenzurückhaltung der Übergangsregierung zu den immer noch guten Budgetzahlen beigetragen, sagt Hans Pitlik. Er räumt aber ein, dass es schon unter der Vorgängerregierung Kurz/Strache keine außerordentliche Ausgabendynamik mehr gegeben habe.
Es gibt kein Budget
Die Budgetrede Hartwig Lögers war eigentlich für den 15. Oktober geplant. Normalerweise wird das Budget vor Weihnachten beschlossen. Heuer gibt es noch kein Budget. Stattdessen wird gezwölftelt. Zu Deutsch: Solange kein Budget für 2020 vorliegt, dürfen die Ressorts im Monat ein Zwölftel des Vorjahresbudgets ausgeben. Gewisse Initiativen können gesetzt werden, aber sie müssen im Kostenrahmen
des Ressorts sein, wie Werner Zögernitz erklärt. Diese Vorgangsweise sei bei Regierungswechseln immer wieder angewandt worden.
Postenbesetzungen
Die Beamtenregierung hat bei Amtsantritt angekündigt, keine wichtigen Postenbesetzungen durchzuführen – und sich daran gehalten. Bierleins früherer Topjob als VfGH-Präsidentin ist damit weiter vakant. Auch eine Reihe von Ausschreibungen für Botschafterposten liegt auf Eis.
Fiskalratspräsident Gottfried Haber wird – weil er seit Juni Vizegouverneur der Nationalbank ist – aus dem Fiskalrat ausscheiden, sobald die neuen Regierung seinen Nachfolger findet. Die Statistik Austria hat ab 1. Jänner nur einen interimistischen Leiter. Auch über den neuen Statistik-Chef muss die nächste Regierung entscheiden.
EU-Performance
Kanzlerin Brigitte Bierlein erklärte im SN-Interview mit Blick auf Europa, dass Österreich trotz seiner „unpolitischen“Übergangsregierung „als vollwertiges Mitglied wahrgenommen“werde. Tatsächlich konnte Bierlein einige Akzente setzen, etwa mit ihrer Ablehnung der Atomkraft als klimaneutrale Energiequelle. Aber naturgemäß war die Verhandlungsposition Österreichs geschwächt. Zögernitz: „Es ist die Frage, wie ernst die Minister anderer Länder eine Übergangsregierung nehmen, die nichts versprechen kann.“
VfGH machte Politik
Böse Zungen unken, Bierlein hätte in ihrer früheren Rolle als VfGHPräsidentin im Jahr 2o19 sogar mehr Politik machen können, als sie es als Kanzlerin letztlich getan hat. Der Verfassungsgerichtshof fällte im Herbst tatsächlich eminent politische Entscheidungen und hob mit wesentlichen Teilen des Überwachunsgpakets und der Mindestsicherungsreform zwei zentrale Reformen der türkis-blauen Regierung auf.
Steuerreform auf Eis
Den ersten Teil ihrer Steuerreform, unter anderem die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Kleinverdiener, setzten ÖVP und FPÖ nach ihrer Scheidung noch mit einem gemeinsamen Initiativantrag durch. Ab 2021 hätten die gestaffelte Lohnsteuersenkung und später eine Körperschaftssteuerreduktion folgen sollen. Die Beschlüsse liegen auf Eis. „Der zweite Teil der Steuerreform war noch nicht durchgeplant. Das wäre eine Entlastung der Bürger und Unternehmer gewesen, die jetzt wahrscheinlich nicht oder möglicherweise in anderer Form kommt“, sagt Wifo-Experte Hans Pitlik. Aussagen zur künftigen Steuerpolitik von Türkis-Grün sind derzeit noch Spekulation.
Geld für Forschung
Ursprünglich hatte die türkis-blaue Koalition ein Forschungsfinanzierungsgesetz geplant, um den Förderagenturen und Forschungseinrichtungen Planungssicherheit zu geben. Bevor man sich einigen konnte, zerbrach die Regierung. Infrastrukturminister Andreas Reichhardt schickte unter dem Titel „Forschungsrahmengesetz“einen Entwurf in Begutachtung – allerdings ohne Budgetzahlen. Der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Anton Zeilinger, erklärte aber, dass er das geplante Forschungsrahmengesetz ohne gesetzlich fixiertes reales Budgetwachstum für „entbehrlich“halte. Das erzeuge nur „Bürokratisierung durch die geplanten jährlichen Berichte“.
Klima und Umwelt
Mit dem am Mittwoch im Ministerrat beschlossenen Klima- und Energieplan hat sich die Übergangsregierung heftige Kritik von Umweltorganisationen und auch den Grünen eingefangen: Die bisher im Klimaplan festgeschriebenen Maßnahmen allein reichen nicht aus, die Klimaziele zu erreichen. Die Übergangsregierung stellte dafür zusätzliche Optionen inklusive Ökosteuern in den Raum, will die Entscheidung darüber aber einer künftigen Regierung überlassen.
Last-Minute-Reform?
Die Regierung musste nicht nur verwalten, sondern sich auch mit Altlasten auseinandersetzen. Die Appelle von Verteidigungsminister Thomas Starlinger und Justizminister Clemens Jabloner im Hinblick auf den ausgezehrten Zustand des Heeres und der Justiz waren dramatisch. Bierlein kündigte zuletzt an, Reformen in der Justiz, der Landesverteidigung, bei Bildung und im Sozialbereich anzugehen, sollte die neue Regierung nicht in absehbarer Zeit stehen.