Leben nach der Bergpredigt
Die guten Menschen gibt es – und es sind mehr, als wir meist denken
S
Sie gehört zu den zentralen Texten der Bibel, die sogenannte Bergpredigt in Kapitel 5 des Matthäusevangeliums, in der Jesus diesen provokanten Satz ausspricht: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Im ersten Moment kommen nur ein paar ganz außergewöhnliche Persönlichkeiten in den Sinn, die diesem herausfordernden Ideal der bedingungslosen Gewaltfreiheit und Nächstenliebe entsprochen haben und entsprechen. Es sind vielfach Frauen und Männer, die sich beinahe wider alle Vernunft, oft jedenfalls aber gegen jede vordergründige Aussicht auf Erfolg einer absoluten Gewaltfreiheit verschrieben haben. Mahatma Gandhi gehörte dazu oder Martin Luther King, Berta von Suttner gehörte dazu und Yousafzai Malala ist heute eine davon.
Die Friedensnobelpreisträgerin Yousafzai Malala wurde als 15-Jährige schwerst verletzt, als ihr am 9. Oktober 2012 ein Talibankämpfer aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hat. Der Grund: Sie hatte sich in in ihrer Heimat Pakistan für die Bildung von Mädchen und Frauen eingesetzt. Wie durch ein Wunder überlebte die junge Frau das Attentat in einem öffentlichen Bus. An ihrem 16. Geburtstag spricht Malala in New York vor den Vereinten Nationen. Sie fordert, dass jedes Kind die Möglichkeit haben soll, zur Schule zu gehen. „Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“
Solche Leuchttürme der Menschlichkeit zeigen über alle Zeiten und Kontinente hinweg, dass Gerechtigkeit nicht chancenlos ist gegen das Unrecht. Die Entschlossenheit und Tapferkeit einer oder eines Einzelnen kann Gewaltsysteme unterlaufen. Malala hat dafür 2014 als bisher jüngste Kandidatin den Friedensnobelpreis erhalten. Stellvertretend für viele, wenn man sich genauer umsieht in der Welt – und entdeckt, dass es neben den weithin bekannten Lichtgestalten noch viel mehr Menschen gibt, die sich in ihrer konkreten Mitwelt ohne großes Aufsehen, aber mit großer Entschiedenheit für eine bessere Welt einsetzen.
Gertraud Putz, die Christliche Gesellschaftslehre an der
Theologischen Fakultät der Universität Salzburg lehrt, hat in jahrelanger Recherche solche außergewöhnlichen Menschen gesucht, bekannte und vor allem weniger bekannte. Allein unter dem Titel „Einsatz für Kinder und Jugendliche“finden sich neben Yousafzai Malala mehr als 100 Namen, von José Antonio Abreu und Jane Addams über Ellen Key und Mercedes Sosa bis zu Ruth Zenkert und Elisabeth Zillken. Angefangen hat die Wissenschafterin ihre Suche nach der besseren Hälfte der Menschheit schon 1996 mit den bekannten „politischen Heiligen“, ganz unabhängig von einem kirchlichen Heiligenschein. Der Friedensnobelpreis war ein erstes Suchkriterium. „Aber je mehr ich in diese Materie eingetaucht bin, desto mehr sind mir Namen von Frauen und Männern untergekommen, die zwar in der Weltöffentlichkeit nicht diese hohe Bekanntheit erreicht haben, die sich aber in ihrem konkreten Umfeld genauso kompromisslos für die Menschenrechte eingesetzt haben“, sagt Putz im SN-Gespräch.
Annemarie Kury ist ein Name, der der Wissenschafterin spontan einfällt. Die zwangsvertriebene Frau aus Böhmen und alleinerziehende Mutter von fünf Kindern hatte 1991 im ORF eine Sendung über die Vertriebenen aus Vukovar in Ostkroatien gesehen. „Entsetzliche Bilder und eine sehr enttäuschende Debatte“, war ihr Eindruck. „Niemand bot aktive Hilfe an.“Dann passiert das, was bei vielen Verfechtern der Menschenrechte passiert ist: Die eigene Erfahrung wird zum Antrieb, anderen zu helfen. Annemarie Kury erinnert sich an die Flucht in ihrer Kindheit, „an die Ungewissheit, an Hunger, Durst und Schlaflosigkeit“. Am 27. November 1991 belädt sie ihren Pkw mit 600 Kilogramm Lebensmitteln und einigen Medikamenten – und fährt los nach Zagreb. Das Empfehlungsschreiben, das ihr den Weg über die Grenze öffnet, hat Annemarie Kury sich selbst ausgestellt, mit diversen Stempeln versehen und ins Serbokroatische und ins Englische übersetzt. Damit beginnt ihr neues Leben. Kury organisiert weitere 170 Transporte. Groß reden will sie darüber nicht. „Ich gehe meinen Weg und folge meinem Stern. Und Sterne machen keinen Lärm.“Das Beispiel von Annemarie Kury illustriert, dass Nächstenliebe immer zuerst jene meint, durch die sich ein Mensch unmittelbar angesprochen weiß. Zu den Vorbildern, die in keiner noch so umfangreichen Aufzählung erwähnt werden können, gehören daher auch alle jene, die alte und kranke Angehörige betreuen oder im Krankenhaus besuchen. Der langjährige Bischof von Graz-Seckau, Johann Weber, hat erzählt, dass er bei Visitationen immer nachgefragt habe, ob der Pfarrer auch regelmäßig die Kranken aus seiner Gemeinde besuche. Für Weber gehörte dies offenbar zum Kern dessen, was mit christlicher Nächstenliebe gemeint sei. In der Bibel ist der barmherzige Samariter zum sprichwörtlichen Vorbild der Nächstenliebe geworden. Auf die Frage eines Gesetzeslehrers, wer sein Nächster sei, antwortet Jesus mit dem bekannten Gleichnis in Kapitel 10 des Lukasevangeliums. Ein Mann fällt unter die Räuber. Nacheinander kommen ein Priester, ein Tempeldiener und ein Reisender aus Samaria vorbei. Die ersten beiden lassen den Verletzten liegen. Der Mann aus Samaria versorgt ihn an
Ort und Stelle und bringt ihn in einer Herberge. Abschließend heißt es: „Was meinst du ( fragt Jesus): Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!“
Manche der „Vorbilder“, die Gertraud Putz in ihrem gleichnamigen Buch beschreibt, haben erst im Laufe ihres Lebens erkannt, dass ihre Nächsten unter die Räuber gefallen sind. Óscar Arnulfo Romero ist ein solcher „bekehrter“Mensch. Der Erzbischof von San Salvador galt als Konservativer, der ein – allzu gutes – Einvernehmen mit der Regierung hatte. Aber als das Militär 1977 ein Massaker an Demonstranten verübt und der Jesuitenpater Rutilio Grande ermordet wird, tritt Romero öffentlich gegen die brutale Gewalt auf. „Als ich den toten Rutilio ansah, dachte ich: Wenn sie ihn für das umgebracht haben, was er getan hat, dann muss ich denselben Weg gehen wie er“, wird der Bischof zitiert. Romero macht sich für die lateinamerikanische Befreiungstheologie stark und wird damit sogar im Vatikan „auffällig“. Mehrere Kardinäle betreiben seine Amtsenthebung. Aber die Killerkommandos sind schneller. Am 24. März 1980 wird Óscar Romero während der Messe am Altar erschossen.
Die Beweggründe für solche Lebenswenden sind unterschiedlich. Eine Voraussetzung ist aber, dass der äußere Anstoß eine innere Resonanz findet. Das kann wie bei Romero ein Mensch sein, der diesen Weg vorausgegangen ist, das können die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sein oder Artikel 1 der deutschen Bundesverfassung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Bei Menschen mit christlichem Hintergrund kann es ganz allgemein das Gebot der Nächstenliebe sein, das zitierte Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder die Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium, die sich wie eine Blaupause für alle Menschen liest, die Gewalt, Terror und Krieg ihrem gewaltfreien Widerstand entgegenstellen:
„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand.“
„Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solang du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist.“
„Selig, die Frieden stiften“, „selig, die keine Gewalt anwenden“. Aufgefallen ist Gertraud Putz bei ihren Recherchen, dass vorbildliche Menschen oft schon früh durch eine außergewöhnliche Verantwortung gefordert wurden. Sei es, dass sie ihre Eltern früh verloren haben oder Verantwortung für eine behinderte Schwester oder einen behinderten Bruder übernehmen mussten. Sei es, dass sie wie Johanna von Orleans, die mit 19 Jahren den Tod erlitt, bereits in der Jugend eine Verantwortung weit über ihr eigenes Leben hinaus empfunden haben. Die französische Nationalheldin wurde 1412 geboren, verließ 1428 ihr Elternhaus und wurde 1431 auf dem Alten Markt von Rouen verbrannt – als Hexe, Zauberin, Wahrsagerin, falsche Prophetin, Gotteslästerin, die schwarze Kunst betreibe.
Dass sie verkannt oder verfolgt werden, ist eine durchgängige Erfahrung solcher Menschen. Nelson Mandela war fast drei Jahrzehnte (1963–1990) als politischer Gefangener in Haft. Der österreichisch-brasilianische Bischof Erwin Kräutler wurde 1987 bei einem inszenierten Autounfall schwer verletzt. 2005 wurde in Brasilien die Ordensfrau Dorothy Stang ermordet. Beide sind gegen Großgrundbesitzer aufgetreten, die den Regenwald niederbrennen und die Lebenswelt der Indios zerstören. Offener Widerstand, der sich selbst nicht schont, ist die eine Richtung, in die ein vorbildliches, heiligmäßiges Leben gehen kann. Alle, die gewaltfrei gegen Fremdherrschaft, Diktatur und politische wie militärische Gewalt angekämpft haben und ankämpfen, gehören in diese Kategorie. Die andere große Gruppe bilden jene, die sich von der Not unmittelbar anrühren lassen und Hilfe leisten, wie immer sie ihnen möglich ist. Dieser Bogen spannt sich von der Flüchtlingshelferin Ute Bock bis zu Mutter Teresa. Für sie gilt, was beim Evangelisten Matthäus in Kapitel 25 steht: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder – und für eine meiner geringsten Schwestern – getan habt, das habt ihr mir getan.“