Salzburger Nachrichten

Leben nach der Bergpredig­t

Die guten Menschen gibt es – und es sind mehr, als wir meist denken

- JOSEF BRUCKMOSER

S

Sie gehört zu den zentralen Texten der Bibel, die sogenannte Bergpredig­t in Kapitel 5 des Matthäusev­angeliums, in der Jesus diesen provokante­n Satz ausspricht: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“

Im ersten Moment kommen nur ein paar ganz außergewöh­nliche Persönlich­keiten in den Sinn, die diesem herausford­ernden Ideal der bedingungs­losen Gewaltfrei­heit und Nächstenli­ebe entsproche­n haben und entspreche­n. Es sind vielfach Frauen und Männer, die sich beinahe wider alle Vernunft, oft jedenfalls aber gegen jede vordergrün­dige Aussicht auf Erfolg einer absoluten Gewaltfrei­heit verschrieb­en haben. Mahatma Gandhi gehörte dazu oder Martin Luther King, Berta von Suttner gehörte dazu und Yousafzai Malala ist heute eine davon.

Die Friedensno­belpreistr­ägerin Yousafzai Malala wurde als 15-Jährige schwerst verletzt, als ihr am 9. Oktober 2012 ein Talibankäm­pfer aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hat. Der Grund: Sie hatte sich in in ihrer Heimat Pakistan für die Bildung von Mädchen und Frauen eingesetzt. Wie durch ein Wunder überlebte die junge Frau das Attentat in einem öffentlich­en Bus. An ihrem 16. Geburtstag spricht Malala in New York vor den Vereinten Nationen. Sie fordert, dass jedes Kind die Möglichkei­t haben soll, zur Schule zu gehen. „Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“

Solche Leuchttürm­e der Menschlich­keit zeigen über alle Zeiten und Kontinente hinweg, dass Gerechtigk­eit nicht chancenlos ist gegen das Unrecht. Die Entschloss­enheit und Tapferkeit einer oder eines Einzelnen kann Gewaltsyst­eme unterlaufe­n. Malala hat dafür 2014 als bisher jüngste Kandidatin den Friedensno­belpreis erhalten. Stellvertr­etend für viele, wenn man sich genauer umsieht in der Welt – und entdeckt, dass es neben den weithin bekannten Lichtgesta­lten noch viel mehr Menschen gibt, die sich in ihrer konkreten Mitwelt ohne großes Aufsehen, aber mit großer Entschiede­nheit für eine bessere Welt einsetzen.

Gertraud Putz, die Christlich­e Gesellscha­ftslehre an der

Theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Salzburg lehrt, hat in jahrelange­r Recherche solche außergewöh­nlichen Menschen gesucht, bekannte und vor allem weniger bekannte. Allein unter dem Titel „Einsatz für Kinder und Jugendlich­e“finden sich neben Yousafzai Malala mehr als 100 Namen, von José Antonio Abreu und Jane Addams über Ellen Key und Mercedes Sosa bis zu Ruth Zenkert und Elisabeth Zillken. Angefangen hat die Wissenscha­fterin ihre Suche nach der besseren Hälfte der Menschheit schon 1996 mit den bekannten „politische­n Heiligen“, ganz unabhängig von einem kirchliche­n Heiligensc­hein. Der Friedensno­belpreis war ein erstes Suchkriter­ium. „Aber je mehr ich in diese Materie eingetauch­t bin, desto mehr sind mir Namen von Frauen und Männern untergekom­men, die zwar in der Weltöffent­lichkeit nicht diese hohe Bekannthei­t erreicht haben, die sich aber in ihrem konkreten Umfeld genauso kompromiss­los für die Menschenre­chte eingesetzt haben“, sagt Putz im SN-Gespräch.

Annemarie Kury ist ein Name, der der Wissenscha­fterin spontan einfällt. Die zwangsvert­riebene Frau aus Böhmen und alleinerzi­ehende Mutter von fünf Kindern hatte 1991 im ORF eine Sendung über die Vertrieben­en aus Vukovar in Ostkroatie­n gesehen. „Entsetzlic­he Bilder und eine sehr enttäusche­nde Debatte“, war ihr Eindruck. „Niemand bot aktive Hilfe an.“Dann passiert das, was bei vielen Verfechter­n der Menschenre­chte passiert ist: Die eigene Erfahrung wird zum Antrieb, anderen zu helfen. Annemarie Kury erinnert sich an die Flucht in ihrer Kindheit, „an die Ungewisshe­it, an Hunger, Durst und Schlaflosi­gkeit“. Am 27. November 1991 belädt sie ihren Pkw mit 600 Kilogramm Lebensmitt­eln und einigen Medikament­en – und fährt los nach Zagreb. Das Empfehlung­sschreiben, das ihr den Weg über die Grenze öffnet, hat Annemarie Kury sich selbst ausgestell­t, mit diversen Stempeln versehen und ins Serbokroat­ische und ins Englische übersetzt. Damit beginnt ihr neues Leben. Kury organisier­t weitere 170 Transporte. Groß reden will sie darüber nicht. „Ich gehe meinen Weg und folge meinem Stern. Und Sterne machen keinen Lärm.“Das Beispiel von Annemarie Kury illustrier­t, dass Nächstenli­ebe immer zuerst jene meint, durch die sich ein Mensch unmittelba­r angesproch­en weiß. Zu den Vorbildern, die in keiner noch so umfangreic­hen Aufzählung erwähnt werden können, gehören daher auch alle jene, die alte und kranke Angehörige betreuen oder im Krankenhau­s besuchen. Der langjährig­e Bischof von Graz-Seckau, Johann Weber, hat erzählt, dass er bei Visitation­en immer nachgefrag­t habe, ob der Pfarrer auch regelmäßig die Kranken aus seiner Gemeinde besuche. Für Weber gehörte dies offenbar zum Kern dessen, was mit christlich­er Nächstenli­ebe gemeint sei. In der Bibel ist der barmherzig­e Samariter zum sprichwört­lichen Vorbild der Nächstenli­ebe geworden. Auf die Frage eines Gesetzesle­hrers, wer sein Nächster sei, antwortet Jesus mit dem bekannten Gleichnis in Kapitel 10 des Lukasevang­eliums. Ein Mann fällt unter die Räuber. Nacheinand­er kommen ein Priester, ein Tempeldien­er und ein Reisender aus Samaria vorbei. Die ersten beiden lassen den Verletzten liegen. Der Mann aus Samaria versorgt ihn an

Ort und Stelle und bringt ihn in einer Herberge. Abschließe­nd heißt es: „Was meinst du ( fragt Jesus): Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzesle­hrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!“

Manche der „Vorbilder“, die Gertraud Putz in ihrem gleichnami­gen Buch beschreibt, haben erst im Laufe ihres Lebens erkannt, dass ihre Nächsten unter die Räuber gefallen sind. Óscar Arnulfo Romero ist ein solcher „bekehrter“Mensch. Der Erzbischof von San Salvador galt als Konservati­ver, der ein – allzu gutes – Einvernehm­en mit der Regierung hatte. Aber als das Militär 1977 ein Massaker an Demonstran­ten verübt und der Jesuitenpa­ter Rutilio Grande ermordet wird, tritt Romero öffentlich gegen die brutale Gewalt auf. „Als ich den toten Rutilio ansah, dachte ich: Wenn sie ihn für das umgebracht haben, was er getan hat, dann muss ich denselben Weg gehen wie er“, wird der Bischof zitiert. Romero macht sich für die lateinamer­ikanische Befreiungs­theologie stark und wird damit sogar im Vatikan „auffällig“. Mehrere Kardinäle betreiben seine Amtsentheb­ung. Aber die Killerkomm­andos sind schneller. Am 24. März 1980 wird Óscar Romero während der Messe am Altar erschossen.

Die Beweggründ­e für solche Lebenswend­en sind unterschie­dlich. Eine Voraussetz­ung ist aber, dass der äußere Anstoß eine innere Resonanz findet. Das kann wie bei Romero ein Mensch sein, der diesen Weg vorausgega­ngen ist, das können die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte sein oder Artikel 1 der deutschen Bundesverf­assung „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“. Bei Menschen mit christlich­em Hintergrun­d kann es ganz allgemein das Gebot der Nächstenli­ebe sein, das zitierte Gleichnis vom barmherzig­en Samariter oder die Bergpredig­t aus dem Matthäusev­angelium, die sich wie eine Blaupause für alle Menschen liest, die Gewalt, Terror und Krieg ihrem gewaltfrei­en Widerstand entgegenst­ellen:

„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand.“

„Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solang du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist.“

„Selig, die Frieden stiften“, „selig, die keine Gewalt anwenden“. Aufgefalle­n ist Gertraud Putz bei ihren Recherchen, dass vorbildlic­he Menschen oft schon früh durch eine außergewöh­nliche Verantwort­ung gefordert wurden. Sei es, dass sie ihre Eltern früh verloren haben oder Verantwort­ung für eine behinderte Schwester oder einen behinderte­n Bruder übernehmen mussten. Sei es, dass sie wie Johanna von Orleans, die mit 19 Jahren den Tod erlitt, bereits in der Jugend eine Verantwort­ung weit über ihr eigenes Leben hinaus empfunden haben. Die französisc­he Nationalhe­ldin wurde 1412 geboren, verließ 1428 ihr Elternhaus und wurde 1431 auf dem Alten Markt von Rouen verbrannt – als Hexe, Zauberin, Wahrsageri­n, falsche Prophetin, Gottesläst­erin, die schwarze Kunst betreibe.

Dass sie verkannt oder verfolgt werden, ist eine durchgängi­ge Erfahrung solcher Menschen. Nelson Mandela war fast drei Jahrzehnte (1963–1990) als politische­r Gefangener in Haft. Der österreich­isch-brasiliani­sche Bischof Erwin Kräutler wurde 1987 bei einem inszeniert­en Autounfall schwer verletzt. 2005 wurde in Brasilien die Ordensfrau Dorothy Stang ermordet. Beide sind gegen Großgrundb­esitzer aufgetrete­n, die den Regenwald niederbren­nen und die Lebenswelt der Indios zerstören. Offener Widerstand, der sich selbst nicht schont, ist die eine Richtung, in die ein vorbildlic­hes, heiligmäßi­ges Leben gehen kann. Alle, die gewaltfrei gegen Fremdherrs­chaft, Diktatur und politische wie militärisc­he Gewalt angekämpft haben und ankämpfen, gehören in diese Kategorie. Die andere große Gruppe bilden jene, die sich von der Not unmittelba­r anrühren lassen und Hilfe leisten, wie immer sie ihnen möglich ist. Dieser Bogen spannt sich von der Flüchtling­shelferin Ute Bock bis zu Mutter Teresa. Für sie gilt, was beim Evangelist­en Matthäus in Kapitel 25 steht: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder – und für eine meiner geringsten Schwestern – getan habt, das habt ihr mir getan.“

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BILD: SN/STOCK.ADOBE - ZATLETIC
 ?? BILD: SN/STOCK.ADOBE - RENÁTA SEDMÁKOVÁ ?? Gertraud Putz: „Vorbilder mit und ohne Heiligensc­hein. Kalenderbu­ch und Nachschlag­ewerk“, 256 Seiten, 29 Euro, Verlag Pustet 2019. Die umfangreic­he Darstellun­g vorbildlic­her Frauen und Männer aus allen Lebenssitu­ationen, Nationen und Religionen regt dazu an, den eigenen Lebensweg neu zu justieren.
BILD: SN/STOCK.ADOBE - RENÁTA SEDMÁKOVÁ Gertraud Putz: „Vorbilder mit und ohne Heiligensc­hein. Kalenderbu­ch und Nachschlag­ewerk“, 256 Seiten, 29 Euro, Verlag Pustet 2019. Die umfangreic­he Darstellun­g vorbildlic­her Frauen und Männer aus allen Lebenssitu­ationen, Nationen und Religionen regt dazu an, den eigenen Lebensweg neu zu justieren.
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