Nachkommen, die vorgehen
Unsere Kinder als unsere Vorbilder
EEin Ozean, sagte einmal das Kind, das seit 15 Jahren Lolinger genannt wird. Ein Ozean also, sagte es, ist doch das größte Wasser, das es gibt, oder? Genau, sagte ich. Ein Ozean ist also so groß, dass du nicht sehen kannst, was da am anderen Ende passiert, sagte Lolinger. Genau, sagte ich. Also kann es auch sein, dass da gar nichts ist, dass da nichts passiert, fragte Lolinger. Wo is nix, wo passiert nix?, fragte ich. Na, am Ende vom Ozean?, sagte sie. Warum soll da nichts sein, sagte ich. Weil es auch gut ist, wenn einmal nichts ist, sagte sie und verließ wortlos den Tisch. Seither ist das Nichts in unserem Leben. Jahre sind vergangen seitdem. Lolinger fragt nicht mehr nach dem Ende des Ozeans, sondern will ihn von Plastik befreien, hat aber daneben auch anderes zu tun. Es ist Winter. In den Bergen zumindest. Ein Plan wird gemacht. Auf dem Küchentisch liegt unter anderem die Karte eines Skigebiets. Auch eine nächtliche Winterwanderung ist angedacht. Oder eine nachmittägliche Radrunde. An manchen Tagen entsteht vom Küchentisch aus dann ein Abenteuer. An anderen Tagen steigen wir schon nach zehn Minuten Radeln gegen den Föhnwind vor einem Kaffeehaus ab. Lolinger erleichtert. Ich durchaus angefressen.
Der elterliche Versuch von Standhaftigkeit prallt häufig ab an falscher Einschätzung eines festen Willens. Dieser Wille behauptet nicht nur, sondern weiß: Ich bin nicht mehr klein, ich bin ein denkender Mensch und ich bin kein Kind mehr und schon gar kein Baby mehr und muss außerdem nicht immer alles gut finden, was ihr Großen, ihr Erwachsenen gut findet. Wandern? Spazieren? Geh! Überhaupt möchte sie, sagt Lolinger dann noch dazu, auch einmal allein sein und was tun, was nur ihr gefällt oder einfach nichts. So wie damals bei der Ozean-Geschichte, sagt sie.
Und ich sage: Gut, dann tu halt nichts, und solang du beim Alleinsein nicht aus dem Fenster springst, den Tag nicht mit einer Schnittwunde beginnst, tu bitte, was du willst. Während Lolinger also irgendwas tut (oder nichts), bau ich mir eine Weltmischung aus Ablenkung, Erinnerungsschleife und Denkversuch: Ich schaue wieder einmal Rocky Balboa beim Fallen und Aufstehen zu und dazu lese ich „Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali“von Jan Philipp Reemtsma.
Keine Schmerzen. K-e-i-n-e Schmerzen! Und wieder fliegt Rocky ins Seil. Sein Trainer schreit an gegen Schmerzen und Schläge. Und Rocky steht. Und ich auch. Und wie Rocky Balboa rufe ich mir am Tag nach der Küchentisch-Strategiesitzung zum Durchhalten im Moment der Erschöpfung die Bilder früher Heldentaten ab. Keine Schmerzen – oder anders: keine Schmerzen, keine
Verfallserscheinungen, keine elterliche Altersschwäche, nichts anmerken lassen, auch wenn ich lieber Rad gefahren oder nächtlich gewandert wäre, weil das weniger anstrengt.
Lolinger nimmt die Skistöcke und sagt schmerzfrei: „Fahr’ ma endlich?“Die Sonne scheint. Berge strahlen. Das Tal leuchtet. Wir stehen und schauen. Also: Ich schau und rede. Wie schön das alles sei auf dem Gipfel! Der Himmel unendlich und blau. Da hinten ist der Sowiesoberg und da drunten wohnen Karli und Laura und da drüben, da waren wir einmal mit Freunden wandern. Und ich schwärme, wie es früher die Älteren getan haben, wie es Ältere halt tun. Und während ich schwärme, fällt mir ein, wie mir das alles wurscht war, als ich es damals hören musste. Aber jetzt bin ich Eltern! Die Zeit ist vorbei, Fehler nachzumachen. Es soll die Zeit sein, etwas vorzumachen. Und ich plappere Lolinger voll, halt sie auf, nur weil meine Beine weher tun als geplant, weil ich alt werde, weil ich nicht mehr als Erster eine schwarze Piste hinunterrase. Die Erinnerungen kratzen wie die Risse im Muskelgewebe, die meine Oberschenkel verkatern. Und Lolinger haut sich bedingungslos die Piste hinunter. Und deutsche Touristen schrammen knapp an Skistockgnackwatsch’n vorbei wegen ihrer Lustigkeit: „Na, wie die fährt, die Kleine, da kommen Sie bald nicht mehr nach.“Was bitte heißt „die Kleine“und was heißt „bald“?! Das denke ich mit fast geballter Faust, während Lolinger lächelnd weghört. Und außerdem: Ich war früher auch so, schnell und furchtlos und niemals müde. Aber das hilft jetzt nicht. Erinnerung ergibt nie ein richtiges Bild. Da bastelt man sich aus einer Handvoll Erinnerungen nur ein persönliches Brett vor dem Kopf. Wir! Damals! Mein Bruder und ich! Die Ersten am Lift in der Früh. Die Letzten am Lift am Abend. Dazwischen Vollgas. Tagelang. Und tatsächlich kennt man das ja, wie man sich dann immer noch denselben Schmarren erzählt, um durchzuhalten. Und das hält man dann für einen wärmenden Rückblick und ist doch nichts als eine Sprachhülse – so erstarrt wie meine Oberschenkel. Und Lolinger schaut kindgerecht missmutig über die Landschaft und sagt: „Ich weiß eh, wo Karli und Laura wohnen und wo wir wandern waren und könn’ ma jetzt bitte endlich wieder Ski fahren, weil die Gegend rennt eh nicht davon!“Und weg ist sie. Kein Schmerz, höre ich mich zu mir selbst sagen. Und das Nächste, was ich höre, ist der Liftwart: „Also, das ist jetzt wirklich die letzte Fahrt.“Und ich frage mich, warum ich lächle, während sie enttäuscht ist. Weil die Schmerzen bald ein Ende haben? Letzte Abfahrt. Sie schwingt ohne Anstrengung. Sie fährt davon. Ich schwinge nach. Bis ganz unten. Bis wir stehen. Und bis Lolinger sagt: „Nicht so schlecht, du kommst eh fast noch nach.“