Der Held der Marktwirtschaft
Wo ist der ehrbare Kaufmann?
EEin Manager der US-Großbank JPMorgan, der einen Mitarbeiter anweist, einer afroamerikanischen Kundin eine Entschädigung von 400.000 Dollar nicht auszuzahlen, da sie mit Geld nicht umgehen könne und es nur verprassen würde. Es ist ein krasses Beispiel, das die „New York Times“publik machte und Vorstandschef Jamie Dimon zu einem offenen Brief an die Mitarbeiter veranlasste, in dem er Hass und Rassismus deutlich verurteilte. Zugegeben, ein Einzelfall. Aber auch der zeigt, wie gefährlich öffentliches Fehlverhalten von Angestellten für Betriebe längst geworden ist. Dazu kommen Skandale, die auf strukturelle Probleme in der Kultur vieler Unternehmen hindeuten, sei es das Fälschen von Abgaswerten, sei es Geldwäsche in großem Stil, bei der sich Banken zum Handlanger machen, oder die oft skandalösen Summen, mit denen selbst grandios gescheiterte Manager bedacht werden. All das trägt zu tiefem Unbehagen in der Bevölkerung bei. Dort macht sich eine Stimmung breit, man könne Unternehmen nicht mehr trauen, da vielen jedes Sensorium dafür abhandengekommen scheint, was geht und was nicht. Das ist gefährlich. Ohne solide Vertrauensbasis können Betriebe auf Dauer nicht erfolgreich sein. Schäden an der Reputation sind aber nicht nur für sie teuer, sie erschüttern das gesamte Wirtschaftssystem.
Ohnehin sieht sich der Kapitalismus heftigem Gegenwind ausgesetzt, obwohl er sich im Wettbewerb der Systeme eindeutig durchgesetzt hat. Sieht man vom Staatskapitalismus ab, wie ihn China und andere asiatische Länder oder auch Russland mit wirtschaftlichem Erfolg, aber um den Preis der massiv beschränkten Freiheit ihrer Bürger betreiben, steht der gesellschaftsliberale Marktkapitalismus gehörig unter Druck.
Es gibt eine hitzig geführte Debatte über die Systemfrage, die weit über die Wissenschaft hinausgeht, und an der die Zivilbevölkerung nicht nur aktiv teilnimmt, sondern sie oft sogar anführt. Nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels und der Forderung an die Wirtschaft, den Verbrauch der natürlichen Ressourcen massiv zu drosseln, gibt es auch radikale Ansätze, die auf eine Welt ohne Wirtschaftswachstum abzielen. Beim Schwelgen in der Fantasie, man könnte das Rad anhalten und sich mit dem Erreichten zufriedengeben, übersehen die Apologeten des Nullwachstums allerdings, dass man damit in neue Probleme hineinliefe. Produktion und Konsum zu bremsen täte zwar der Umwelt gut, aber wenn der Kuchen bei wachsender Bevölkerung gleich groß bleibt, entstehen neue Verteilungskonflikte. Vielen Menschen würde die Chance genommen, auch nur einen Lebensstandard zu erreichen, den viele in den westlichen Industriestaaten längst hinter sich gelassen haben.
Aber dass sich etwas ändern muss, gestehen selbst jene zu, die den Kapitalismus aus gutem Grund verteidigen und ihn erhalten wollen. Dabei spielen Moral und Anstand eine wichtige Rolle. Hier lohnt ein Blick in die Geschichte. Zu Zeiten von Adam Smith war die Moral noch ganz nah an der Ökonomie. Das erste bahnbrechende Werk des Begründers der modernen Wirtschaftswissenschaft war die „Theorie der ethischen Gefühle“, die 17 Jahre vor seinem Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“erschien. Wie Smith in seinem moralphilosophischen Werk schreibt, ist es die Fähigkeit zur Sympathie, die es Menschen ermöglicht, sich in die Lage anderer zu versetzen und zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.
Diese Trennlinie zu ziehen und ein Überschreiten zu sanktionieren trieb die deutschen Kaufleute bereits im 16. Jahrhundert um. Die Grundsätze des Ehrbaren Kaufmanns gehen bis ins Jahr 1517 zurück. Damals unterwarf sich die Versammlung der Hamburger Kaufleute freiwillig einem beruflichen Ehrenkodex, der auf den „im Geschäftsverkehr allgemein anerkannten ethischen Grundsätzen“aufbaute, „das Prinzip von Treu und Glauben“beachtete und postulierte, dass „Handlungen unterlassen werden, die mit dem Anspruch auf kaufmännisches Vertrauen nicht vereinbar sind“. Das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns wurde in neun Grundsätzen zusammengefasst. Einer davon beschrieb die Aufgabe, die der Kaufmann zu erfüllen hat, und lautete, in seinem Unternehmen die Bedingungen für ehrbares Handeln zu schaffen. Um das zu erreichen, müsse der Ehrbare Kaufmann „in seinem Handeln Vorbild“sein. Dem Begriff Ehre haftet heute etwas Antiquiertes an. In jener Zeit war die Ehre das größte Gut eines Kaufmanns. Wurde sie ihm abgesprochen, war er geschäftlich erledigt. Das hat sich in gewisser Weise nicht geändert, was sich bei börsenotierten Unternehmen sehr gut zeigen lässt. Wenn dort etwas passiert, was Anleger am Erfolg oder gar am Bestand des Konzerns zweifeln lässt, rasselt der Aktienkurs in den Keller. Um nicht allein von den Investoren abhängig zu sein, verabschieden sich daher immer mehr Unternehmen vom Dogma des Shareholder-Value. Zuletzt legten sogar die Chefs von 180 US-Konzernen den engen Fokus auf die Aktionäre ad acta und erklärten, sie würden ihr Handeln zukünftig auch an Interessen von Kunden, Mitarbeitern, Lieferanten und gesellschaftlichen Gruppen ausrichten. Den Stakeholder-Ansatz propagiert Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums, schon lang. Dennoch ließ er das aus 1973 stammende Davoser Manifest überarbeiten. Es legt nun auch fest, dass Unternehmen ihren fairen Anteil an den Steuern zahlen, in der Lieferkette Menschenrechte achten müssen und Korruption nicht tolerieren dürfen.
Die versöhnliche Wirklichkeit ist zudem, dass jene, die mit Anstand ihren Geschäften nachgehen, die stille Mehrheit bilden. Die schlechten Beispiele dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass es sie auch heute noch zuhauf gibt – die ehrbaren Kaufleute.