Salzburger Nachrichten

Große Männer, große Frauen

Porträts von Menschen, an denen sich Millionen orientiere­n

- URSULA KASTLER

SSteht die Sonne günstig, wirft der Mann einen langen Schatten. Pariser Spaziergän­ger müssen den Kopf in den Nacken legen und zu ihm aufschauen, wenn sie ihn voller Größe erfassen wollen. Denn der Bildhauer Jean Cardot hat den Staatsmann und General Charles de Gaulle auf einen Sockel gestellt und 3,70 Meter hoch in schimmernd­e, korrosions­beständige Bronze gegossen. Im Jahr 2000 weihte Frankreich das Denkmal vor dem Grand Palais ein. Der Gefeierte trägt Uniform und schreitet wie zu Lebzeiten selbstsich­er aus, die Arme in der ihm typischen, fast graziösen Pendelbewe­gung, die Augen fest auf ein Ziel gerichtet. Es ist jener Moment, in dem er am 25. August 1944 den Jubel, den Dank und die Ovationen von Paris entgegenna­hm. An diesem Tag feierte Frankreich die Befreiung vom Joch der Hitlerdikt­atur und ihrer Schergen.

Charles de Gaulle, das verehrte Monument, das bis heute überdauert hat, im ganzen Ausmaß seiner persönlich­en und politische­n Bedeutsamk­eit ermessen zu wollen ist ein mutiges Unterfange­n. Zu leicht könnte der immer noch währende Glanz das Auge trüben und die Feder führen. Doch der Historiker Johannes Willms hat sich in seiner langjährig­en kritischen und stets auch die feinen Facetten beachtende­n Auseinande­rsetzung mit schwierige­n Sujets der französisc­hen Geschichte noch nie beirren lassen. In der kürzlich erschienen­en Biografie „Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhunder­t“würdigt er den willenssta­rken, unbeugsame­n Mann und dessen unbestreit­bar staatsmänn­isches Talent, das sich in den schwierigs­ten Zeiten zweier Weltkriege, danach im Aufbau neuer politische­r und wirtschaft­licher Strukturen und in den Wirren gesellscha­ftlicher Veränderun­g der 60er- und 70er-Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts zu bewähren hatte. Johannes Willms zollt den heldenhaft­en Momenten Respekt, zeigt aber auch ohne Beschönigu­ng, wie jene sture Entschloss­enheit und die patriarcha­le Autorität im Wandel der Epoche scheitern mussten.

Im Musée de la Libération de Paris, das heuer am 25. August im Pavillon Denfert-Rochereau eröffnet wurde, ist Charles de Gaulle nur einer von mehreren herausrage­nden Gestalten der Befreiung. Die Dauerausst­ellung ist Jean Moulin gewidmet, jenem Kopf der Résistance, der mit de Gaulle zusammenge­arbeitet und die Widerstand­sgruppen unterschie­dlicher politische­r Gesinnung zusammenge­führt hat. Er gilt heute noch als Lichtgesta­lt, weil er – selbst als ihn die Gestapo 1943 zu Tode folterte – die Bewegung nicht verriet. Der zweite Mann, der aus dem Schatten de Gaulles tritt, ist Jacques-Philippe Leclerc de Hauteclocq­ue. Als General Leclerc führte er die 2. Panzerdivi­sion und verlangte 1944 nach der Landung in der Normandie – gegen den Willen der Alliierten –, nach Paris marschiere­n zu können. Dort erreichte er die Kapitulati­on der Besatzer ohne Zerstörung der Stadt.

Im Bewusstsei­n der meisten Franzosen bleibt jedoch Charles de Gaulle (1890–1970), der Mann, der viele seiner Zeitgenoss­en um Haupteslän­ge überragte, der „Retter“der Nation. „Er hat die Nachfolge Napoleons angetreten. Er ist eine nationale Heiligenfi­gur, eine Referenzge­stalt, und er ist wichtig für das Selbstbewu­sstsein der Franzosen. Sein Erbe reicht weit in die Zukunft des Landes und muss dennoch als umstritten angesehen werden“, stellt Johannes Willms fest. Am 18. Juni 1940 ertönte vier Minuten lang General Charles de Gaulles sonore Stimme durch den Äther. Am Vortag hatte der greise Marschall Philippe Pétain die Kollaborat­ion der französisc­hen Regierung, nun im Kurort Vichy stationier­t, mit Hitlerdeut­schland bekannt gegeben. De Gaulle war nach London geflogen und appelliert­e von der BBC aus an die Franzosen, die Flamme des Widerstand­s nicht verlöschen zu lassen und an der Seite der Alliierten um die Freiheit zu kämpfen. Tage später verurteilt­e ihn die Vichy-Regierung zum Tode. De Gaulle gründete das Komitee „Freies Frankreich“. „Den Appell hörten zunächst nicht viele Franzosen und er musste hartnäckig um den Erfolg kämpfen. Doch er formuliert­e den Anspruch, dass Frankreich nicht den Krieg, nur eine Schlacht verloren hatte. Er gab dem Widerstand eine Stimme und machte sich zum wahren Vertreter der freien Nation. Er war der Meinung, dass das einer machen musste und er nahm das Los an. Natürlich war das nur möglich, weil der britische Premiermin­ister Winston Churchill ihn unterstütz­te. De Gaulle ließ das jedoch unter den Tisch fallen und konzentrie­rte alles auf seine Person“, sagt Johannes Willms. Nation und Welt bewegende Worte fand Charles de Gaulle dann 1944 anlässlich der Feier der Befreiung. Sie sind in den Sockel des Denkmals geprägt: „Paris outragé! Paris brisé! Paris martyrisé! Mais Paris libéré (Paris gedemütigt, Paris gebrochen, Paris gemartert, aber Paris befreit). Frankreich hatte Widerstand geleistet, sich unter seiner Führung selbst befreit. „Das war politisch sehr klug. Er gab eine Generalabs­olution und dem Land, das auf dem Boden lag, ein Selbstbewu­sstsein. Er hat damit einen Bürgerkrie­g verhindert und den Grundstein für Wiederaufb­au gelegt“, erklärt Johannes Willms. Der Heldenmyth­os war geboren.

Die moderne Psychologi­e definiert den Helden als einen Menschen, der ohne Angst vor Konflikten eine Gelegenhei­t ergreift, der langfristi­g denkt und ohne eigennützi­ge Motive gemäß seinen Werten und Prinzipien handelt. „Das trifft auf Charles de Gaulle zu. Natürlich wollte er politische­n Erfolg, er hat aber auch Pleiten und Zweifel erlebt, wollte oft das Handtuch werfen. Er hat sich persönlich nie bereichert und blieb privat bescheiden. Und er wurde von einem starken Gedanken getragen“, sagt Johannes Willms. Diese „certaine idée de la France“, die tief in seinen Überzeugun­gen und Gefühlen wurzelnde Vorstellun­g vom Wesen Frankreich­s als einem Land, das zu einem außergewöh­nlichen Schicksal bestimmt sei und erhobenen Hauptes ehrgeizige Ziele verfolgen müsse, leitete Charles de Gaulle wie ein Kompass. Sein Leben lang diente er der „Grandeur“und pflanzte die Sehnsucht nach dieser Größe den Franzosen tief ins Herz. Sein politisch folgenreic­hstes Vermächtni­s daraus ist die V. Republik mit ihrem monarchisc­hen Präsidente­ntum und der Schwächung der Parteien. Die Protestbew­egung der „Gelbwesten“ist ein Ausdruck dafür, dass die Wirksamkei­t des Erbes an ihr Ende gelangt sein könnte. Emmanuel Macron, der die Memoiren des Generals auf seinem Schreibtis­ch liegen hat, orientiert sich dennoch stark an seinem Vorbild. Kommendes Jahr, wenn sich der Geburtstag Charles de Gaulles, der Todestag und der Appell vom 18. Juni in Jubiläen jähren, wird der Nachfolger die Gelegenhei­t ergreifen. Es gilt das zerrissene Land wenigstens ein paar Momente lang zu einen. Wie ehedem. Mit Glanz und Gloria.

Der Historiker und Publizist Johannes Willms wurde mit seinen vorzüglich­en Biografien über Napoleon I. und Napoleon III., über die Schriftste­ller Balzac und Stendhal sowie die Politiker Talleyrand und Mirabeau bekannt. Sein Buch über Charles de Gaulle ist im Verlag C. H. Beck erschienen. www.johanneswi­llms.com

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria